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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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förmlich an sich. Percys Staunen beantwortete er mit einer Zeigefingerpantomime, die nur heißen konnte: Keine Reaktion, ja! Und löste sich und war weg. Verschwunden. Der Professor hatte ihn gar nicht bemerkt.
    Natürlich ins Abtszimmer jetzt. Percy war gespannt, ob der Professor, wenn sie am Bild des Vorfahren Eusebius vorbeigehen würden, hinschauen würde. Er schaute hin. Natürlich! Als sie auf der Polsterbank neben einander saßen, sagte der Professor, die in der Mitte sei es gewesen. Rötlich helle Haare. Die anderen zwei waren ja blond und langhaarig. Sie aber rötlich, und Haare nur bis in den Nacken.
    Und was für ein Nacken, sagte Percy.
    Artemis, sagte der Professor.
    Und nach einiger Zeit: Da die Yacht Kybele hieß, hätte Dr. Bruderhofer doch sagen können, dass das die altanatolische Fruchtbarkeitsgöttin gewesen sei. Abgelöst erst im ersten Jahrtausend durch Artemis. Dass die als vielbrüstige Göttin heute noch zu sehen sei, wäre auch erwähnenswert gewesen. Und dass beiden dann Maria folgte …
    Er schwieg wieder.
    Dann: Das begreifst du, Percy, es ist … es tut weh … einen so tadellosen Feind zu haben.
    Wieder später: Ein Schurke wär’ mir lieber. Und jedes Jahr hoff’ ich, dass sie jetzt schwimmt. Dort. Im Meer. Und dass man das sehe.
    Weil das unüberhörbar der Schluss war, konnte Percy gleich sagen: Augustin, sag mir, warum du mir oft vorkommst wie mein jüngerer Bruder. Den ich nicht habe.
    Der Professor zog die Brauen in die Stirne. Schob seine Zungenspitze zwischen die Lippen.
    Und Percy: Wir sehen einander überhaupt nicht gleich. Deine Augen sind viel heller blau als meine. Deine sind größer, sind in offenen, fast flachen Augenhöhlen. Meine Augenhöhlen verdienen diese Bezeichnung, deine nicht. Dein braves Blond, mein explosives Rot. Und nichts entspricht deinem unten ein wenig vorspringenden Sanftheitsgesicht so genau wie deine randlose Brille. Dein Mund. Wenn du nicht sprichst, schiebst du die Zungenspitze zwischen die Lippen. Ich habe lästig viel Lippen, du hast diszipliniert folgsame, und die Zunge wird dir zur dritten Lippe.
    Der Professor sagte: Lieb, wie du mich zeichnest. Vor vierzig Jahren hatte ich wahrscheinlich auch eine Ober- und eine Unterlippe. Die Unterlippe ist weg. Ich war ein Leben lang in sie verbissen. Die Zunge ersetzt die verbissene Unterlippe.
    Und Percy: Wenn du wenigstens mein älterer Bruder wärst! Aber auch noch der jüngere! Ich muss dich beschützen. Du bist das Lamm. Ich der Hirte. Und jetzt sag’ ich noch einen Traum. Gestern Nacht. Ein Satz. Er stockte, dann sagte er: Der Riesenzustand aller Dinge, ein eigensüchtiges Gepräng.
    Der Professor sagte: Du kannst dich auf dich verlassen.
    Schweigen.
    Und drückte auf den Knopf. Ein gewaltiger, aber friedlicher Chor brach los. Magnificat anima mea Dominum.
    Sie saßen neben einander und hörten zu, als werde ihnen etwas mitgeteilt. Immer wieder anima mea. Und jedes Mal noch sehnsüchtiger hochstrebend. Nach dem Amen saßen sie wieder, ohne zu reden, aber nicht schweigend. Als es Zeit war, sagte der Professor: Tu autem.

11.
    Während die Leute Platz nahmen, saß Percy schon am Spieltisch der Orgel. Die Orgel war auf der den Saal umlaufenden Galerie eingebaut, auf der Stirnseite der Galerie; der Spieltisch auf einer Seite der Orgel, also könnte der Orgelspieler sehen, was drunten im Saal vor sich ging. Aber Percy wollte nicht wissen, dass da ein Saal war, der sich füllte. Er zog ein einziges Register. Das klang wie ein Holzblasinstrument. Oboe vielleicht. Er spielte mit diesem einzigen Ton, als suche er eine Melodie. Er suchte ja wirklich eine. Aber er wollte keine finden. Er wollte nur eine suchen. Immer wenn er einer Melodie hörbar nahegekommen war, brach er deutlich ab und fing deutlich wieder von vorne an. Diesmal mit einem anderen Register. Flöte vielleicht. Aber dass der Professor, der schon in der ersten Reihe gesessen war, aufstand, musste er bemerken. Also führte er sein Melodiesuchspiel zu einem fast groben Ende. Das hieß: Ich darf jetzt nicht weiterspielen. Tut mir leid. Und ging auf der in steilem Bogenschwung nach unten führenden Treppe hinunter und stellte sich neben dem Professor auf das Podest. Der sagte wie vor zwei Jahren, er freue sich, dass Anton Percy Schlugen wieder nach Scherblingen gefunden habe und wieder, wie vor zwei Jahren, zu allen sprechen wolle, die bereit seien, ihm zuzuhören. Da Anton Percy Schlugen in den zwei Jahren, seit er hier gesprochen habe, auch

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