Muttersohn
andernorts aufgetreten sei, er nenne nur Zwiefalten, Untermarchthal und Weißenau, grenzte es an Lieblosigkeit, wenn er jetzt da nicht mehr spräche, wo er sich vielleicht als Sprecher entdeckt hat. In diesem Saal, unter diesem Himmelsgewölbe, in das alles gemalt ist, was in Europa seit mehr als zweitausend Jahren verehrenswert ist. Bitte, Percy.
Percy konnte jetzt nicht gleich anfangen. Er hob die Arme, breitete die Arme aus. Eine Ich-kann-nichts-dafür-Geste. Dann aber ging ein Ruck durch die Arme, sie ruderten durch die Luft, als seien sie Flügel. Aber wieder waren es keine. Und zeigten doch, dass er eigentlich nach oben wollte. Hinauf. In dieses gemalte Himmelsgewölbe mit allen Szenen und Figuren, die nennenswert sind. Unwillkürlich lenkte er so die Köpfe, die Blicke der Leute auch nach oben. Das hatte er nicht gewollt. Aber da er selber so heftig nach oben strebte, nahm er die Leute einfach mit. Dann ließ er die Arme rasch sinken. Irgendwann, als er merkte, dass die Leute wieder zu ihm hinschauten, sagte er: Liebe Leute, das habe ich ja vor zwei Jahren schon gesagt, dass meine Mutter gesagt hat, ich sei ein Engel ohne Flügel. Wie recht sie, was die Flügellosigkeit angeht, hat, kann einem nirgends deutlicher werden als unter diesem Himmelsgewölbe. Man möchte zu gern auffliegen. Hinauf. Einfach, weil man so sicher weiß, wo man landen möchte. Wo ich landen möchte. Nicht beim apokalyptischen Lamm in der hohen Mitte dieses bevölkerten Himmels. Auch nicht, so steil überm eigenen Kopf, in Golgatha mit allem grausamen Drum und Dran. Nein, ich möchte landen, wo das Licht landet, das der Tag durch die Fenster wirft. Das viele Licht. Durch alle Fenster. Die des Saals und die der Galerie. Der mit zweitausend Jahren bevölkerte Himmel lebt von diesem Licht. Und seine hellste Stelle: Maria. Die sogenannte Himmelskönigin. Das ist die Spannung da droben. Dort Maria mit ihrem Kind und hier das Ende: Golgatha. Und um Maria herum, zu ihren Füßen, die Marienverehrer. Da möchte ich landen. Zwischen dem Denker Duns Scotus aus Schottland und dem Dichter Hermann von der Insel Reichenau. Der Schotte hat gebetet, Maria soll ihn würdig machen, sie zu loben. Aber in der Weltsprache seiner Zeit hat er das gesagt, in griffigem Latein, Dignare me laudare te. Das geht einem direkt ein. Dazu reicht das bravste Urlaubsitalienisch. Dignare me laudare te. Und zwischen dem Schotten und dem Reichenauer Mönch möchte ich landen. Hermann der Lahme, immer mit Krücke gemalt, er hat den Gesang angestimmt, der nicht mehr aufgehört hat: Salve Regina. Einmal, bei einer Führung, fragte eine Zehnjährige, wie das gehen solle, dass so viele da droben Gemalte auf Wolken stünden. Sie wurde belehrt: Schau doch, wer die Wolken trägt, die Engel. Woher haben die Engel so viel Kraft, fragte das Kind. Und der, der die Gruppe führte, sagte: Moses Maimonides hat gesagt, alle Kräfte, die in einem Körper wohnen, sind Engel. Es ist nicht überliefert, ob dem Kind das etwas gesagt hat. Hätte es mich gefragt, ich hoffe, ich hätte gesagt: Gemalte Engel können alles. Warum hat man den Bücherschränken hier im Saal und droben auf der Galerie Bücher auf die Türen gemalt? Hinter den gemalten Büchern waren einmal zehntausend wirkliche Bücher. Dann wird das Kloster aufgelöst, ein Graf und ein König reißen sich zehntausend Bücher unter den Nagel, verscheppern die Beute ans Antiquariat, die Schränke sind leer, für immer, aber auf den Türen gibt es noch die zehntausend gemalten Bücher. Liebe Leute. Cassette vergine. Leere Behältnisse. Vergine heißt jungfräulich, heißt rein UND heißt leer. Und schon ist leer gleich rein gleich jungfräulich. Ich könnte mich im frommen Rap verlieren. Dignare me laudare te, Leere! Was immer du sonst wo heißt. Ich glaube an die Leere beziehungsweise an gemalte Bücher. Der Rest ist Gebet.
Percy machte deutlich unernste, flatterhafte Flugbewegungen. Er parodierte sich selbst. Und ließ wieder seinen Blick vom übervölkerten Himmelsgewölbe anziehen. Blieb sogar so stehen: Blick nach oben, die Hände nutzlos an ihm herabhängend.
Die Leute schauten auch wieder hinauf. Er wartete wieder, bis sie wieder zu ihm hinschauten. Und sagte: Liebe Leute, weil ich ängstlich bin, komme ich mir kühn vor. Ich bin der Indianerstamm, der am Anfang des Jahres die Vorratskörbe verbrennt, um zu beweisen, dass er den Göttern vertraut. Angst vor dem nächsten Winter müssten die Götter für eine Beleidigung halten.
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