Myrddin
aus. Er war auf dem Weg nach Britannien, weit draußen auf dem Eis vor Norwegen, und er wußte, daß er bald wieder den Menschen begegnen mußte, und dies eher, als er es erhoffte. Doch noch rannten sie über das Eis in die Nacht, in die ruhige Finsternis, in das Gemach der Dunkelheit. Und Schweigen war um sie herum. Der Schneefall ließ nach, der Wind legte sich gegen Abend und die Dunkelheit wurde klarer. Der Mond leuchtete vage durch Haufenwolken, verdeckte sich kurz und wurde dann kräftiger.
Merlin dachte an Carus, der ihm genesen, aber schwach erschien. Er dachte an die Vanyar, die vielleicht kommen würden, und beglückwünschte sich zu seinen Freunden, die rastlos mit ihm dahinjagten. Klaglos hatten sie sein Vorhaben zu ihrem gemacht und verehrten ihn wie er sie. Was war diese Freundschaft wert, überlegte er sich und fand keine Worte für das Gefühl, das ihm mehr als nur als Glück erschien.
X
Es kam, wie es kommen mußte, wenn man mit einem geschwächten Wolf auf seinem Schoß über Tage eisiger Kälte durch die Nordbreiten reiste. Der Stockfisch konnte die verlorene Kraft des Tieres nicht ersetzen und das duftende Honigbrot schmeckte zwar hervorragend, konnte ihm aber nicht die notwendige Energie geben, die er zum Laufen brauchen würde.
Merlin hatte alle in der sechsten Nacht nach der Abreise von Nordkvaloy rasten lassen, sehnte sich nach den Elfen, die sich auf eine ausgezeichnete Backkunst verstanden und Nährstoffe verwendeten, die in seiner Küche weitgehend unbekannt waren. Doch die Blondelfen kamen nicht und während er den Wölfen den Trank mischte, der sie beflügelte, für Carus aber noch zu stark gewesen wäre, überlegte er, was er tun könnte. Er brauchte frisches Fleisch, Wildhühner, Geflügel, eine Gans oder etwas Ähnliches.
Carus fühlte sich kräftig, aber Merlin wußte, daß er längst nicht so laufen könnte wie selbst der alte Melchor, da ihn die Kraft des Wassers überfordern würde. Er würde in Visionen fallen, hätte Trugbilder vor Augen und verlöre wahrscheinlich nach kurzer Zeit bereits seinen Verstand. Es fehlte dem Wolf an Körpergewicht, auch wenn er mit Appetit den Fisch aß und mit großer Lust das Wasser trank. Carus hatte Gewicht verloren, obwohl er wieder gesund war, lebendig mit den anderen stritt und sich des Lebens freute. Bevor er laufen könnte wie die anderen Wölfe, brauchte er Fleisch, das seinen Gewichtsverlust ausgleichen würde. Doch in der Schneeöde waren weder Kaninchen noch Wildhühner zu finden. Keines der Tiere wagte sich auf das feindliche Eis – und Gänse, die Merlin ziehen gehört hatte, flogen eine andere Route. Außerdem wäre es in seinen Augen ein Verbrechen gewesen, eine dieser Wildgänse zu töten, nur um sie zu verfüttern.
Im Gebirge hätte man erjagbares Wild gefunden – verängstige Schnee- und Rebhühner, querschießende Lemminge, oder man hätte wenigstens Erdhörnchen und Mäuse fangen können. Aber sie waren nicht im Gebirge. Sie waren auf dem Nordmeereis, unzählige Kilometer vor der Küste, in einer toten, leeren, wunderschönen Wildnis, an die sie sich gewöhnt hatten, deren Schweigen sie kannten und die sie sich erlaufen hatten. Sie hatten das Unwirkliche besiegt, waren ihm überlegen geworden, hatten Nahrungsmittel, nur eben nicht das frische Fleisch, das sie für Carus brauchten.
Merlin rief Hörn und Melchor, die sofort aufsprangen und zu ihm kamen, während Samael, Akita, Pacis und Carus sich mit Dauerrätseln vergnügten, die keine Auflösungen besaßen – ein Lieblingsspiel der Wölfe, die sich sicher und zufrieden fühlten.
Merlin hingegen streifte unruhig über das Eis, sah die Freunde kommen, die er gerufen hatte, und setze sich mit ihnen zusammen in den Schnee.
„Ich möchte nicht lange darum herumreden müssen: es geht um Carus“, begann Merlin.
„Gebietet dir Carus nicht den gebotenen Respekt, o Merlin?“ fragte Melchor betroffen, der der Ansicht gewesen war, daß man zum ersten Mal in der Gemeinschaft harmonisiere.
„Doch, Melchor. Er erweist mir alle nur erdenkliche Anerkennung und er macht deiner ganzen Familie alle Ehre. Ich möchte nur erreichen, daß er wieder mit euch laufen kann, und obwohl er vollkommen gesund ist, fehlt es ihm an Kraft.“
„Meinst du, o Merlin?“ fragte Melchor nachdenklich. „Mir scheint, daß er niemals frischer und ausgeruhter war als heute …“
„Sicherlich stimmt das. Aber er kann mit euch nicht mitlaufen. Die Kraft des Wassers, das ihr trinkt, könnte ihm
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