Myrddin
daß wir das Fleisch für Carus brauchen. Es könnte ihn bedrücken“, meinte Merlin, der selten rücksichtsvoll vorging. Und sie standen auf, gingen zu den vier Grauwölfen und erzählten ihnen, was zu tun war.
Die Freude wich aus ihren Gesichtern, da sie augenblicklich an den Menschen dachten. Es war nicht Norwegen, das ihnen Angst machte – es waren die Menschen, die das Land bevölkerten. Diejenigen, die sie mieden, gegen die sie sich niemals zur Wehr setzen durften, wie es Melchor seinem Rudel befohlen hatte. Sie waren stets ihrer Nähe ausgewichen, hatten beachtliche Umwege ihretwegen in Kauf genommen, waren zu undenklichen Zeiten jagen gegangen, nur um eine Konfrontation zu vermeiden – und jetzt sollten sie aus der Sicherheit der Weite, die sie kennengelernt hatten, an die Küste Skandinaviens vorstoßen und Fleisch besorgen?
Sie konnten sich für dieses Unternehmen nicht begeistern, doch Melchor wählte Samael und Akita dafür aus, etwas zu erjagen.
Was für ein Fluch liegt auf guten Jägern, dachte Samael, und Betroffenheit sah man in den Masken der Auserwählten.
Merlin gab ihnen dann die Gedanken zu seiner Strategie preis. Er meinte, daß sie – falls er sich nicht irrte – den Nordfjord passiert hätten und jetzt vor dem Sognefjord wären. Die Gegend sollte so gut wie menschenleer sein – eine unbesiedelte, waldreiche Fjordlandschaft. Es gäbe eine kleine Insel, Ospa, zu der er unverzüglich aufbrechen wolle, und sie alle hatten den unverständlichen Mut, ihm zu folgen. Um weiteren Bedenken vorzubeugen, spannte er Hörn vor seine HAMAMELIS, nahm Carus zu sich in das Boot und stürmte mit seinen Freunden in die klirrende Nacht. Die Grauwölfe sollten sich hinter ihm halten und er navigierte nach den herrlich funkelnden Sternen, hatte die Gegebenheiten der Küste vor Augen, die er von der Landkarte her kannte, und lief auf Ospa zu – auf eine kleine, unbewohnte Insel, dem Ausgang des Afjords südlich vorgelagert, die niemals einen bedeutenderen Besucher haben sollte als Merlin. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Hörn aus einer Wolke wirbelnder Schneekristalle – hinter ihm eine Meute Wölfe, die ihm folgte – die erste niedrige Erhebung über dem Eis ausmachte, auf die sie zuhielten. Und dies geschah nach nicht mehr nennbaren Zeiten, die sie auf dem Eis des Nordmeeres zugebracht hatten.
Mit kaum zu beschreibender Geschwindigkeit hatten sie sich dem Eiland genährt und waren an einer steinig-rauhen eisverharschten Küste angelangt, die sie wie Eroberer beschritten.
Merlin fragte Melchor, ob er eine Gefahr wittere oder ob er Wild auf der Insel ausmachen könne. Er kannte die Sorgen Melchors sehr wohl, doch es schien keine Spur von Wild auf der Insel zu geben. So war das Vorhaben besiegelt. Akita hatte sich wegen ihrer neuen Aufgabe verändert. Aus der jungen, verspielten Grauwölfin war eine entschlossene Jägerin geworden. Und Samael besaß die Erfahrung eines Treibers und Kundschafters. Die beiden Wölfe sollten sobald als möglich zurückkommen. Sie sollten sich keinesfalls auf tollkühne Abenteuer einlassen und wenn möglich ein Wildhuhn oder kleinere Nager schnappen. Die Wölfe kannten die vielen Unterscheidungen der Menschen in ihrer Sprache nicht, und folglich standen die Begriffe Nager und Wildhuhn als Artenbezeichnung stellvertretend für eine Unzahl von Tierarten, die sie erjagen durften.
„Und wir werden nicht auf der Insel, sondern weithin erkennbar auf dem Eis auf euch warten“, sagte Merlin, verabschiedete das Kommando und lehnte sich dann in stoischer Ruhe in seiner HAMAMELIS zurück.
Es war kurz vor Tagesanbruch. Melchor lag neben dem Boot vor Carus und Pacis. Hörn war noch vor Merlins Nußschale gespannt und kaute auf der Wurzel, die er von dem Zauberer erhalten hatte – ein Wundermittel für Hörn. Im Osten waren die Wolken vom Horizont verschwunden und ein gelber Streifen erschien über den scharfen Kanten Norwegens. Im Süden blickten sie auf Solund – eine schon größere, zerklüftete Insel, die eigentlich aus vielen kleineren Erhebungen über dem Nordatlantik bestand.
Hechelnd lagen die Wölfe auf dem Eis und warteten. Ihr warmer Atem dampfte ihnen aus den Lungen. Sie blickten in die Richtung, in der sie Samael und Akita verschwinden sahen, und ihnen war übel vor Anspannung. Die Zeit, die verging, maß sich in der Morgendämmerung und Melchor wurde unruhig, da er seine Phantasien nicht zügeln konnte. Er stand auf, trabte mit hängendem Kopf um das
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