MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
auszuweichen.
Der Wanderer machte einen Schritt auf sie zu, streckte seine Rechte aus und griff nach dem Bündel in ihren Armen. Behutsam schlug er das Tuch zur Seite.
Ein winziger Kopf kam darunter zum Vorschein, rosig und von einem dunklen Haarflaum bedeckt: das Haupt eines Neugeborenen. Die Augen in dem zarten Gesicht hatten die Form von Mandeln und die Farbe dunkler Smaragde. Als der Säugling den Wanderer erblickte, streckte er die dünnen Ärmchen nach ihm aus.
Die Augen des Mannes leuchteten für einen kurzen Moment auf, aber dann sah er die Frau wieder mit unbewegter Miene an. »Ich fühle, was dein Herz bewegt«, sagte er, »und ich weiß um die Schwere der Last, die dir aufgebürdet wurde. Deshalb werde ich dir helfen, sie besser zu ertragen.« Nachdem er das Neugeborene wieder sorgsam in das wärmende Tuch gehüllt hatte, legte er der Frau eine Hand aufs Haupt. »Schließe die Augen!«, befahl er.
Die Frau tat, wie ihr geheißen wurde. Mit gesenktem Kopf lauschte sie den monotonen und beschwörenden Worten, die der Wanderer nun sprach. Sie verstand nicht einen seiner seltsamen Laute, aber noch während sie darüber nachsann, was sie bedeuten mochten, formte sich ein Bild in ihrem Kopf: das Bild eines Falken, der mit kräftigen Flügelschlägen direkt auf sie zuhielt. Während der stolze Vogel immer näher kam, wurden die beschwörenden Worte immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummten und der Falke von einer dichten Nebelwolke verschlungen wurde.
Als die Frau die Augen wieder öffnete, war der Wanderer verschwunden, als habe der Erdboden ihn verschluckt. Dafür aber hatte der Regen wieder eingesetzt und rauschte mit unverminderter Heftigkeit vom Himmel herab.
Entschlossen trat die junge Frau jetzt nach vorne und mitten in den schimmernden Nebel hinein. Sie war kaum darin verschwunden, als die Wolke aus Licht noch einmal heller erstrahlte als je zuvor. Dann begann sie, sich aufzulösen, ganz langsam und ohne Eile. Nachdem die letzten Dunstschlieren sich mit dem Nachtdunkel verbunden hatten, war von der Frau nicht die geringste Spur mehr zu sehen.
Nur drei graue Riesensteine ragten aus dem regendurchtränkten Ödland auf - mächtige Findlinge, die sich wie die trutzigen Wächter der Zeiten zum nächtlichen Himmel emporreckten.
KAPITEL 1
DIE ZEICHEN MEHREN SICH
W ar es Schicksal?
Fügung?
Oder einfach nur - Zufall?
Niko Niklas hatte keine Ahnung, warum ihn der unscheinbare Laden wie magisch anzuziehen schien. Das Geschäft befand sich im Erdgeschoss eines heruntergekommenen Hauses, das bestimmt schon bessere Tage gesehen hatte. Es war mindestens zweihundert Jahre alt, wenn nicht älter. Die Vorderfront war verwittert und der schmutzig graue Verputz bereits an vielen Stellen abgeblättert. Genau wie die Farbe an den Fensterrahmen, denen schon vor längerer Zeit ein neuer Anstrich gutgetan hätte. Niko musste schon unzählige Male an dem alten Gemäuer vorbeigekommen sein, denn es lag direkt an seinem Schulweg und war nur ein paar Gehminuten von seinem Zuhause entfernt. Trotzdem war es ihm in all den Jahren, in denen er das Tolkien-Gymnasium schon besuchte, noch niemals aufgefallen. An diesem Tag aber war alles anders, auch wenn zunächst nichts darauf hindeutete.
Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien. Niko befand sich auf dem Nachhauseweg und hatte es furchtbar eilig. Das Zeugnis in seinem Rucksack bestätigte schwarz auf weiß, dass er die achte Klasse bestanden und damit die Versetzung in die neunte geschafft hatte. Aber genau das hatte seine Mutter Rieke nicht für möglich gehalten. Weil sein Halbjahreszeugnis nämlich eine einzige Katastrophe gewesen war. So grauenhaft, dass Rieke das Allerschlimmste befürchten musste. Um ihren Sohn anzuspornen, hatte sie damals eine Belohnung ausgesetzt: einen verlängerten Wochenend-Ausflug ins Adventure-Land, einen brandneuen und supermegatollen Vergnügungspark. Die Eintritts- und Übernachtungspreise dort waren allerdings mehr als happig. Rieke würde also ziemlich tief in die Tasche greifen müssen. Dabei stöhnte sie doch immer, dass ihr schmales Bibliothekarinnen-Gehalt gerade mal ausreichte, um mit Ach und Krach über die Runden zu kommen. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass die versprochene Belohnung am Ende des Schuljahres tatsächlich fällig würde!
Bei dem Gedanken musste Niko grinsen. Das grauenhafte Zwischenzeugnis hatte ihn selbst fast noch
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