MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
würde, und so kam es auf ein paar Sommer früher oder später nicht an. Die kräftigen Muskeln, die sich unter der tiefbraunen Haut seiner Arme und seines Oberkörpers abzeichneten, bewiesen zudem, dass Arawynn für sein Alter stark und kräftig war, und so ging ihm die Arbeit an Esse und Amboss schon fast genauso leicht von der Hand wie früher dem Vater. Aber was dem Vater zugestoßen war - das stand auf einem anderen Blatt, und Arawynn konnte es weder vergessen noch verwinden.
Mit einer langen Schmiedezange holte der Junge ein glühendes Eisenstück aus der Esse, legte es auf den Amboss und hieb mit dem Hammer so energisch darauf ein, als könnte er mit den Schlägen seinen Vater aus den Ketten befreien. Das Geräusch der wuchtigen Hiebe schallte weit über die Grenzen des Dorfes hinaus, schwebte über Wiesen und Felder und stieg hoch empor über das dichte Wipfeldach des angrenzenden Waldes. Mehr und mehr zwang die Gewalt des Hammers nun das Eisen in die gewünschte Form, bis es schließlich als Pflugschar zu erkennen war, wenn auch noch grob und unfertig. Noch einmal ließ Arawynn den wuchtigen Schlegel niedersausen, bevor er das Werkstück rasch in den breiten Wasserbottich neben dem Amboss tauchte. Eine große Dampfwolke stieg unter lautem Zischen daraus empor, während das Metall abkühlte und gleichzeitig an Festigkeit gewann.
Arawynn wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich um. Einige Schritte abseits stand ein Mädchen, das mit einem langen Holzstößel Körner in einem Steinmörser zerstieß. »Ayani?«, sprach er es an.
Ayani war im gleichen Alter wie Arawynn. Sie war groß gewachsen und ein knielanges Gewand aus grobem Leinen umhüllte ihre schlanke Gestalt. Um ihren Hals hing eine Kette, deren Anhänger im hellen Licht des Tages glänzte. Die pechschwarzen Haare reichten bis auf ihre Schultern herab. Ein Stirnband aus braunem Leder sorgte dafür, dass sie ihr nicht in das hübsche Gesicht mit den mandelförmigen Augen fielen. Ayani hielt in ihrer Arbeit inne und blickte den Jungen fragend an. »Ja, Bruder?«
»Würdest du bitte zum See gehen und ein paar Eimer für mich schöpfen?« Arawynn deutete mit dem Hammer auf den Bottich. »Das Kühlwasser geht bald zur Neige, und ich muss mich sputen, wenn meine Arbeit noch heute fertig werden soll. Du weißt, dass ich das versprochen habe.«
»Ja, sicher«, erwiderte Ayani. »Wenn du weiter keine Wünsche hast?« Ein leichter Spott lag in ihrem Lächeln. Sie legte ihren Stößel zur Seite und packte die beiden Holzeimer, die im Schlagschatten der Hütte standen, an den Trageseilen. Dann stieß sie einen leisen Pfiff aus, worauf ein seltsames Wesen fast lautlos aus der Tür der Hütte sauste: Es ähnelte einer kleinen Katze, doch sein Körper war über und über mit rotbraunen Schuppen bedeckt. Auf seinem Rücken befanden sich große Flügel, ähnlich denen eines Drachen, und auf seinem Nasenrücken ragte ein Drachenhorn auf. Es war ein Schleichdrache - ein Tier, das viele Alwen als Haustier hielten. »Was ist, Pirrik?«, sprach Ayani das Tierchen an. »Kommst du mit zum See oder bist du zu faul?«
Anstelle einer Antwort ließ der Schleichdrache einige Pfeiflaute hören, breitete seine Flügel aus und flatterte auf die Schulter des Mädchens.
»Aber dass du mir nicht wieder davonfliegst und ich dich stundenlang suchen muss, verstanden?«
Erneut ertönte ein Pfiff, der jetzt aber empörter klang und wohl so viel bedeuten sollte wie: »Wo denkst du hin!«
»Gut. Dann also los.« Ayani wollte schon mit Pirrik davoneilen, als ein Geräusch sie innehalten und den Blick zum Himmel wenden ließ.
Eine Schar großer Vögel zog am tiefblauen Firmament dahin: Wandergänse, wie nicht nur ihre pfeilförmige Formation, sondern auch ihr aufgeregtes Schnattern verrieten. Ayani runzelte die Stirn. »Seltsam«, sagte sie nachdenklich.
»Seltsam?«, wiederholte Arawynn, der neben seine Zwillingsschwester getreten war und nun ebenfalls zum Himmel spähte. »Was soll an Wandergänsen denn seltsam sein?«
»Fragst du das im Ernst?« Ayani warf ihm einen überraschten Blick zu. »Oder fällt es dir wirklich nicht auf?«
»Nein.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Was soll mir denn auffallen?«
Bevor das Mädchen antworten konnte, war die sanfte Stimme einer Frau zu vernehmen: Maruna, die Mutter der beiden, kam eben mit einem Weidenkorb, in dem sich zwei schmächtige Kohlköpfe verloren, aus dem
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