Mysterium
Normalzustand. Es gab kein Telefonklingeln, keine Stimmen in der Ferne, keine widerhallenden Schritte – keinerlei Anzeichen, dass hinter den Türen, die er sehen konnte und die wahrscheinlich zu Lagerräumen führten, ein solch geschäftiges Leben herrschte wie in den Etagen darunter.
Tom ging ein paar Meter weit, bis er zu einer Kreuzung zweier Korridore gelangte, und bog rechts ab, bis er die nächste Ecke erreichte – wo er sah, was er gesucht hatte. Links führten drei Stufen zu einer Trennwand aus Sicherheitsglas, hinter der er ein Stück des blaugrauen, bewölkten Himmels sah. In der Trennwand gab es eine Tür. Tom stieg die Stufen hinauf und betete, die Tür möge offen sein. Er drückte den Griff. Abgeschlossen. Tom fluchte leise und wollte sich nach einem anderen Weg umsehen, als er einen Schlüssel entdeckte, der in einer Mauernische neben der Tür lag. Tom steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Die Tür ließ sich mühelos öffnen.
Draußen angelangt, füllte Tom zum ersten Mal seit Wochen seine Lungen mit frischer Luft. Er hatte vollkommen vergessen, wie sehr sie sich von der Luft im Krankenhaus unterschied. Doch es war nur eine augenblickliche Regung, die Tom rasch abschüttelte. Er ermahnte sich, dass er nicht heraufgekommen war, um sein Leben zu genießen, sondern um es zu beenden.
Er sah sich um. Die Oberfläche des Flachdaches war gespickt mit Luftschächten und Aufbauten, die Teile der Aufzüge und der Klimaanlage beherbergten. Dahinter sah er eine Brüstung aus Ziegeln, mit Betonplatten abgedeckt und kaum einen halben Meter hoch. Er humpelte hinüber, ging auf die Knie und spähte über die Brüstung hinweg.
Unter ihm lag der Parkplatz. Zwei Wagen waren gerade weggefahren und hinterließen Ölflecken auf der Asphaltoberfläche, die ihn beim Aufschlag vernichten würde. Es war perfekt. An diesem Nachmittag war das Glück auf seiner Seite.
Er brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass er zögerte. Und noch einen, um zu begreifen, warum er zögerte. Tom wusste, dass etwas sich geändert hatte, still und heimlich. Irgendetwas hatte sich geändert – aber was?
Etwas in ihm? Oder in seiner Umgebung?
War es möglich, dass er gar nicht mehr sterben wollte, nachdem er sozusagen das Ende der Fahnenstange erreicht hatte? Dass seine Verzweiflung bloß eine Illusion war?
Er musste eine Weile nachdenken, bevor er erkannte, woher dieses seltsame neue Gefühl kam: Es ging von derselben Stelle in seinem Hirn aus, die auch für die Entscheidung verantwortlich war, allem ein Ende zu machen. Aber diesmal war es keine Entscheidung, sondern ein Verlangen. Tom sehnte sich nach etwas, das ihm wichtiger war als der Tod.
Er brauchte einen Drink.
Der Wunsch nach einem Drink war stärker als der Wunsch zu sterben.
3
»Ich heiße Tom. Ich bin Alkoholiker.«
»Hallo, Tom. Schön, Sie bei uns zu haben.«
Es war das Treffen der Anonymen Alkoholiker, von dem Dr. Pierce ihm erzählt hatte. Er fand es überraschend einfach, das anfängliche Bekenntnis »Ich bin Alkoholiker« auszusprechen – beinahe so, als hätte er diese Worte seit langem sagen wollen, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Es waren die drei Worte, die ihn veränderten, ihn und die Welt, in der er lebte.
Was ihn am meisten überraschte, waren die angenehme Atmosphäre und der herzliche Empfang, den die Gruppe ihm bereitete. Es waren Männer und Frauen verschiedenen Alters und aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, vom Angestellten über den Künstler zum Arbeiter. Sie stellten ihm keine Fragen und verlangten nichts von ihm, wollten nicht einmal seinen Nachnamen wissen. Sie wollten nichts weiter als seine Geschichte hören – und dass er sich ihre anhörte.
Einige dieser Geschichten waren oft erzählt worden und wurden mittlerweile routiniert dargeboten. Andere wurden stammelnd und zusammenhanglos vorgebracht: Versuche, unter Schmerzen erworbene Selbsterkenntnisse auszudrücken. Doch jedem wurde mit demselben andächtigen Respekt zugehört, und jedem wurde mit derselben Wärme für seinen Beitrag gedankt.
Während der restlichen Zeit seiner Genesung ging Tom jede Woche mehrere Male zu den Treffen der AA. Er gewann Stärke und Zuversicht. Aber die wahre Veränderung hatte an jenem ersten Tag stattgefunden. Ihm wurde klar, dass er sich verändert hatte, weil er es wollte .
Dann, eines Tages, geschah etwas, das Toms Zukunft verändern sollte. Er war auf dem Rückweg von einer physiotherapeutischen Behandlung und ging
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