Mystic City Bd 1 - Das gefangene Herz
direkte Berührung durch einen mächtigen Mystiker kann einen gewöhnlichen Menschen töten.
Trotzdem verstehe ich nicht, was die plötzliche Aufregung um die Mystiker soll. Zwei Jahrzehnte sind vergangen seit dem Großen Feuer am Muttertag, dem Attentat der Mystiker, das so viele Unschuldige das Leben kostete. Heutzutage wird jeder Mystiker zweimal im Jahr abgeschöpft. Auf diese Weise wird ihm seine magische Kraft entzogen. Die meisten Mystiker leben unten in den armen Regionen der Stadt, genannt »die Tiefe«. Kein Bewohner der Horste würde sich je an diesen grauenhaften Ort verirren. Die Mystiker in den Horsten arbeiten als Diener, Kellner oder Regierungsangestellte. Die haben bestimmt kein Interesse an einem Umsturz. Ihnen reicht es, wenn sie genug verdienen, um zu überleben.
Natürlich sind nicht alle Mystiker harmlos. Manche von ihnen wollen sich weder registrieren noch abschöpfen lassen. Sie lauern unten in der Tiefe. Warten. Verstecken sich. Schmieden Pläne.
Thomas nimmt den Arm von meiner Taille. »Ich habe Kyle noch gar nicht gesehen«, sagt er.
»Ich auch nicht.« Mein Bruder Kyle steht nicht gern im Rampenlicht. Partys sind überhaupt nicht seine Sache. Vermutlich hat er sich irgendwo mit seiner Freundin Bennie verkrochen.
»Möchtest du tanzen?«, fragt Thomas. Unter all den fremden Blicken kann ich schwer ablehnen. Ich reiche Kiki meine Hand-tasche und gehe mit Thomas in die Mitte des Raumes. Seine Hände fühlen sich unbeholfen an, als wären sie mit meinem Körper nicht vertraut. Plötzlich frage ich mich, ob wir einander schon nackt gesehen haben, und meine Wangen werden heiß.
»Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht«, sagt er und wiegt uns sanft hin und her. Er riecht nach Zedern und einem Hauch Vanille. Das Quartett spielt ein herrlich langsames Stück von Górecki. »Was hast du dir da nur angetan!«
»Ach, abgesehen von den Kopfschmerzen geht es mir fantastisch.« Und abgesehen davon, dass du mir total fremd bist. Ich verdränge diesen Gedanken und überlasse mich ganz der Musik. Wenn ich lange genug tanze, erinnere ich mich vielleicht an den ersten Tanz mit Thomas. Meine Haut kribbelt, ich deute das als Vorfreude. Thomas sieht toll aus und steht eindeutig auf mich. Wenn ich wirklich so verliebt in ihn bin, wie alle behaupten, darf ich mich wirklich glücklich schätzen.
»Wie haben wir uns kennengelernt?« Ich flüstere, damit es niemand hören kann.
Er weicht ein wenig zurück. »Du kannst dich wirklich an nichts erinnern?«
Ich schüttele den Kopf.
Schon als kleines Mädchen wollte ich mich unbedingt verlieben. So wie im Fernsehen oder in Romanen, wo man seine andere Hälfte findet, den Menschen, mit dem man ewig zusammenbleiben möchte. Und dann ist man plötzlich ein Ganzes. Eine solche Liebe verbindet mich und Thomas – das behaupten zumindest meine Eltern. Warum empfinde ich dann nichts, wenn er mich berührt? Ich dachte immer, wahre Liebe müsste mich versengen.
Meine Mutter eilt herbei und trennt uns. »Ich muss deinen Verlobten für einen Moment entführen. Gouverneur Boch möchte mit ihm sprechen.«
Thomas gibt mir einen Kuss. »Bis gleich.«
Ich blicke ihm nach. Ist das meine Zukunft mit Thomas: Geschäfte, Meetings und unsere Eltern? Plötzlich fühle ich eine Beklemmung in der Brust, als wäre mein Kleid auf einmal zu eng. Ich muss hier raus. Ich gehe zur anderen Seite des Raumes, schleiche an der Wand entlang und drücke auf den Handscanner des Balkons. Meine biometrischen Daten werden eingelesen. Die elektrische Schiebetür verschwindet in der Wand und schließt sich wenige Sekunden später hinter mir. Draußen herrscht eine Höllenglut. Mein ganzer Körper ist im Nu von einem Schweißfilm überzogen.
Es heißt, die Hitze sei eine Folge der Klimakatastrophe. Das Eis der Pole und Gletscher ist geschmolzen und das Meer hat die Antarktis und Ozeanien verschlungen. Die Erderwärmung hat auch die Kanäle unten in der Tiefe nötig gemacht. Die Straßen von einst wurden vom Meerwasser überflutet. Bald, so sagen Wissenschaftler voraus, wird das Wasser die ganze Insel bedecken. Niemand weiß genau, wann bald sein wird.
Ich gehe zur Balustrade. Vor mir liegen die Horste, so hoch über dem überschwemmten Terrain, dass sie zu schweben scheinen. Einige Dutzend Stockwerke unter mir verläuft die Leichtbahn; schlanke weiße Wagen gleiten in die Stationen hinein und wieder hinaus; wenn sie Fahrt aufnehmen, sind sie nur noch als Lichtstreifen zwischen den Schatten
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