Mystic Tales - Sammelband mit 4 Romanen (German Edition)
sagte der Mann und hockte sich neben Rita. Er konzentrierte er sich völlig auf den Verunglückten. Er beugte sich über den Mann und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Mit dem anderen Arm strich er sanft über die Arme und die Beine des Mannes.
»Was soll das? Warum holt nicht jemand einen Sanitäter?«, kreischte eine Frau.
Der Mann blickte auf. Sein Blick tra f den der Frau und diese verstummte. Sie senkte beschämt ihren Kopf.
Entgeistert beobachtete Rita die kleine Szene. Lieber Gott , sie hatte ihn gefunden, diesen Mann! Sein Charisma war überwältigend. Er hatte die Umstehenden nur mit seinem Blick zum Schweigen gebracht und widmete sich nun ganz seiner Tätigkeit.
ER HEILTE!
Seine Hände glitten über den Verunglückten. Die Finger des Mannes vibrierten leicht, berührten den Verunglückten jedoch nicht. Vielmehr schien es, als bildeten sich zwischen den Händen des Heilers und dem Körper des nun kaum hörbar stöhnenden Skiläufers pulsierende Lichteffekte, als blicke man über den Rand eines Feuers oder in die Weite einer Straße, über der brütende Hitze lag.
In Ritas Ohren pochte es. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie ihr eigenes Herz hörte. Schweiß lief ihr über den Rücken , und kalte Schneenässe drang durch ihre Jeans. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Auch er hockte auf den Knien im Schnee. Auch ihn schien die kalte Feuchtigkeit nicht zu stören.
Obwohl die Heilung eigentlich unspektakulär war, haftete ihr doch etwas Faszinierendes an. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als der Verunglückte anfing, sich zu bewegen. Er streckte seine Beine. Sie erwartete, den Mann voller Schmerzen schreien zu hören. Auch die Umstehenden atmeten tief aus.
Konzentriert wischte der Heiler nun mit der Handfläche über die Stirn des Mannes. Sanft zog er ihm die Skibrille von den Augen, nahm etwas Schnee und rieb ihm damit das Blut aus dem Gesicht und richtete die Nase .
Der Verunglückte konnte nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein. Als sich seine flatternden Lider hoben, blickte Rita in fragende Augen. Der Heiler nickte zufrieden und murmelte unhörbare Worte. Seine Hände zitterten , und er wirkte jählings, als habe er einen anstrengenden Lauf hinter sich. Schweiß perlte ihm aus den Haaren. Als sich Sonnenstrahlen darin fingen, glitzerte sein Kopf, als habe eine Fee einen Zauberbann darum gesponnen.
»Wer sind Sie?«, murmelte Rita. »Wer um alles in der Welt sind Sie?« Sie war sich nicht sicher, ob der Mann ihre Worte überhaupt gehört hatte, da er sich weit über den Skiläufer bückte und flüsterte: »Nehmen Sie die nächste Gondel ins Tal. Legen Sie sich ins Bett. In einer Stunde wird es Ihnen besser gehen.«
»Ein Wunder!«, gellte eine Stimme aus der Menge und pflanzte sich fort wie ein Echo.
Der Kopf des Geheimnisvollen schnellte hoch. Seine Augen waren verhangen, als sei er soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht.
»Wer sind Sie?«, fragte Rita erneut, diesmal etwas lauter.
Nun brach ein Tumult los. Schuhe scharrten im Schnee, Stimmen wehten durcheinander, Rufe eilten über die Pisten und Handys wurden gezückt, mit denen man fotografierte. Von weit her hörte Rita das Schrappen eines Hubschraubers.
Der Verunglückte bewegte sich und machte Anstalten aufzustehen. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Verwirrung und Entzücken.
Endlich klärte sich der Blick des Heilers. Sein Kopf schnellte zu Rita herum. Rita konnte nicht anders, sie legte dem Mann ihre Hand auf die Schulter. Unter ihren Fingerspitzen kribbelte es. »Sag, wer du bist«, keuchte sie.
Der Mann nickte. »Ich bin das Schlimmste, das Ihnen widerfahren konnte.«
Auf dem Gletscher herrschte Aufregung.
Licitus, rechte Hand des Herrn der Oberen, beobachtete zufrieden das Treiben. Vor einer Stunde war ein Hubschrauber des Fernsehsenders gelandet. Seitdem war es vorbei mit der Stille, die sonst über dem Eis lag. Zwei Mitarbeiter des Senders in roten Schneeanzügen - treue Jünger des Zirkels - bauten eine meterhohe Satellitenschüssel auf. Andere Auserwählte unterstützten die Fachleute und errichteten eine Wellblechbaracke, in der die gesamte Technik, die für eine Fernsehübertragung notwendig war, untergebracht werden sollte. Diese Männer vom Fernsehsender waren wichtig, genauso wichtig wie viele andere Jünger, die in wichtigen Positionen saßen. Geschäftsleute, Manager, Ärzte, Geistliche, Schriftsteller und Schauspieler sorgten dafür, dass der Tag der Tage ein voller Erfolg
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