Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
tatsächlich alles ganz normal aus. Die alten Straßenlaternen sprenkelten den Woodward Park mit kleinen Lichtflecken, der Wind wisperte in den gepflegten Eichen, rief leise nach dem Wechsel der Jahreszeiten und wirbelte die Blätter umher wie dressierte Mini-Tornados. Und direkt in der Mitte des Parks sah Mikki den sanften Schein der Bühnenbeleuchtung für die Theaterproben. Ganz leise drang die Stimme einer der Schauspielerinnen an ihr Ohr:
»Ein wenig Liebe ist eine Freude in diesem Haus,
Ein wenig Feuer ist ein Talisman gegen Kälte
und Finsternis …«
Mikki machte einen Schritt in Richtung ihrer Wohnung, hielt aber gleich wieder inne und warf dem von Licht und Geräuschen erfüllten Park einen sehnsüchtigen Blick zu. Er sah aus wie eine Oase der Magie inmitten der Stadt – eine kleine Welt nur für sie. Eine lockende Brise wehte vom Park herüber und umspielte ihren Körper, als wollte er sie auffordern, ihm zu folgen.
Und warum nicht?
Mikki sah auf die Uhr. Es war gerade mal neun. Der Park und die Rosengärten schlossen erst um elf. Nelly hatte ihr ausdrücklich geraten, ihr Leben ganz normal weiterzuleben, und nichts war normaler für sie, als durch den Park zu spazieren und ihre Rosen zu besuchen. Sie würde nur kurz bei den Proben zuschauen und dann eine Runde durch die Gärten drehen. Sie hatte sowieso vorgehabt, bald noch mal nach den Rosen an der Baustelle zu sehen, denn sie befürchtete, dass die Arbeiter dort in ihren schweren Stiefeln herumstapften, ohne auf ihre Schützlinge zu achten.
Mikki blickte in den dunkler werdenden Himmel hinauf und erinnerte sich daran, dass heute Neumond war. Wenn die Rosen Hilfe brauchten, wann wäre dann ein besserer Zeitpunkt, sie ihnen zukommen zu lassen?
Sie würde nur schnell bei der Baustelle vorbeischauen und sich vergewissern, dass die Arbeiter das schlimmste Chaos beseitigt und die Rosen nicht beschädigt hatten. Dann würde sie nach Hause gehen, sich noch ein Glas Gute-Nacht-Wein einschenken und es sich mit einem guten Buch gemütlich machen – einem Buch von einer Frau, natürlich!
Oder du könntest dich einfach schlafen legen , flüsterte die lockende Stimme in ihrem Kopf. Eigentlich wollte sie doch nichts lieber, als sich in den Armen ihres Traum-Geliebten wiederzufinden.
Mit großer Willensanstrengung verdrängte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf. Sie konnte ihr Leben nicht nach ihren Phantasien ausrichten – sonst würde sie noch wirklich verrückt werden.
6
Anstatt die Straße zu überqueren, folgte Mikki dem Weg um die hübschen, von Wasserfällen gespeisten Teiche, die das nördliche Ende des Woodward Parks säumten. An der nächsten Gabelung wandte sie sich nach Süden, in Richtung Parkzentrum, wo bei der erst gestern Abend aufgebauten Bühne momentan reges Treiben herrschte. Immer wieder schnappte sie Fetzen von poetischen Versen auf, die ihr einen kleinen Vorgeschmack auf das Theaterstück gaben.
»Die heiligen Fontänen steigen aus der Erde empor,
der Qualm der Opferungen steigt aus der Erde empor,
der Adler und der wilde Schwan steigen aus der
Erde empor, und auch Rechtschaffenheit ist aus
der Erde emporgestiegen und hat sich der Göttin
zu Füßen gelegt …«
Mikki suchte in ihrem Gedächtnis nach Einzelheiten von Medeas Geschichte. Sie erinnerte sich vage, dass das Stück eine alte griechische Tragödie war und dass es um eine Frau namens Medea ging, die von ihrem Mann Jason verlassen wird … Mit gerunzelter Stirn durchforschte Mikki die letzten Überbleibsel ihres lange vergessenen Englischunterrichts.
»… Aber Frauen werden nie ihre eigenen Kinder hassen.«
Von der sanften Brise an ihr Ohr getragen, durchbrach der Vers den Nebel, der ihre Erinnerung verschleierte. Medea war wütend auf Jason gewesen, weil er sie wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte – der Königstochter des Landes, in das sie geflohen waren, nachdem Medea ihr Heimatland verraten hatte, um Jason zu retten.
»Typisch Mann …«, murrte Mikki vor sich hin. Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie sich der Gruppe von Leuten näherte, die die Scheinwerfer ausrichteten und frisch bemalte Teile von Sperrholz-Kulissen von hier nach da transportierten. Auf der Bühne standen mehrere Schauspielerinnen, aber sie waren verstummt. Drei von ihnen hatten sich nervös auf der linken Bühnenseite gruppiert, und eine Frau stand ihnen gegenüber auf der rechten Seite. Sie trugen Toga-artige Gewänder, und ihre Haare fielen ihnen offen und lang über die Schultern. Alle
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