Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
blickten sich suchend um, als würden sie erwarten, dass jeden Moment jemand aus den dunklen Schatten vor der Bühne auftauchen würde. Mikki blieb stehen und fragte sich, warum die Frauen so unruhig wirkten.
»Wo, zur Hölle, ist Medea?«
Die laute Männerstimme erscholl aus einem kleinen, offenen Zelt nicht weit von ihr entfernt, und Mikki zuckte erschrocken zusammen.
»Sie … sie hat gesagt, sie müsste kurz Pause machen«, antwortete die allein dastehende Frau zögerlich.
»Das war vor einer halben Stunde!«, rief der Mann wütend zurück. »Wie sollen wir den Soundcheck ohne Medea machen?«
Mikki spähte in das Zelt, konnte aber nur ein beleuchtetes Soundboard sehen, auf dem Hunderte kleiner Lichter blinkten, und davor die dunkle Silhouette eines Mannes.
»Ich könnte zwei Mikros tragen und auch ihren Text lesen«, schlug eine der drei Frauen vor und hielt sich eine Hand über die Augen, um durch das grelle Scheinwerferlicht zu dem Mann hinübersehen zu können, der vermutlich der Regisseur des Stücks war.
»Das geht nicht. So können wir keinen exakten Soundcheck machen. Verdammt nochmal! Ich hab die Nase voll von Caties Theater! Die kleine Zicke denkt, sie ist Medea!« Der Mann machte eine Pause, und Mikki konnte hören, wie er unruhig auf und ab lief. Dann, als hätte ihr Blick ihn angezogen, drehte er sich plötzlich zu ihr um. »Hey, Sie! Wären Sie so nett, uns zu helfen?«
Mikki sah sich um. Außer ihr war niemand da. Der Mann redete tatsächlich mit ihr.
»Ich?« Sie lachte nervös.
»Ja, es dauert auch nur ein paar Minuten. Könnten Sie auf die Bühne gehen, sich ein Mikro geben lassen und ein paar Zeilen lesen?«
»Ich kenne den Text aber nicht«, erwiderte Mikki etwas dümmlich.
»Das ist egal.« Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er einen der Techniker in der Nähe der Bühne zu sich heran. »Hol der Dame ein Skript und sag Cio, dass er ihr ein Mikro geben soll.« Dann wandte er sich wieder Mikki zu. »Wie wär’s mit zwei Karten für die Premiere als Dank für Ihre Hilfe?«
»O-okay«, stammelte Mikki. Was, zum Teufel …? Nelly liebte Theater – sie würde sie mitnehmen.
Sie kam sich nur ein ganz klein wenig albern vor, als sie sich von zwei Männern auf die Bühne führen ließ. Der eine drückte ihr ein Skript in die Hand, und der andere, sicherlich Cio, schob ihre Locken zurück und befestigte ein winziges Mikrophon an ihrem Haaransatz.
»Hey«, rief Cio dem Regisseur zu, »ihre Haare sind genauso dick wie Caties Perücke.«
»Gut, dann stimmen die Werte überein.«
»Sie stehen dort drüben.« Cio deutete auf einen Klebebandstreifen, der auf der Bühne angebracht war. »Nachdem die korinthischen Frauen ihren Text aufgesagt haben, werde ich auf Sie zeigen, und Sie lesen Medeas Bittgebet an Hekate.« Er zog einen Stift aus seiner Hemdtasche und kreiste einen Abschnitt des Skripts ein. »Diese Strophe hier. Wenden Sie sich dem Publikum zu und sprechen Sie so langsam und deutlich wie möglich. Alles klar?«
Mikki nickte.
»Sehr schön.« Cio klopfte ihr gedankenverloren auf die Schulter, bevor er die Bühne verließ.
»Keine Sorge«, sagte eine der drei Frauen beruhigend zu Mikki und lächelte ihr zu, »Sie kriegen das hin.«
»Ich weiß ja nicht«, flüsterte Mikki. »Ich habe noch nie eine Göttin beschworen.«
»Und das werden Sie auch jetzt nicht – es sei denn, Sie sind Medea höchstpersönlich.« Die Schauspielerin grinste.
»Oder eine von Hekates Blutpriesterinnen«, schaltete sich eine der anderen Frauen in das Gespräch ein.
»Oder Sie sind größenwahnsinnig und bilden sich ein, Sie wären beides.« Bei diesem Kommentar der ersten Frau verdrehten alle Schauspielerinnen die Augen.
»Seid ihr bereit, meine Damen?«, rief der Regisseur.
Die vier Frauen warfen Mikki aufmunternde Blicke zu, als sie ihren Platz in der Mitte der Bühne einnahm.
»Okay, je schneller wir fertig werden, desto früher können wir nach Hause. Erste Korintherin, fang bitte an.«
Die Stimme der Ersten Korintherin war laut und klar, als sie die Verse wiederholte, die Mikki vorhin gehört hatte.
»Die heiligen Fontänen steigen aus der Erde empor,
der Qualm der Opferungen steigt aus der Erde empor,
der Adler und der wilde Schwan steigen aus der Erde
empor …«
Eine plötzliche Gefühlsaufwallung ließ Mikkis Herz schneller schlagen, und ihre Nervosität wich angenehmer Aufregung. Die Worte der Schauspielerin schienen sie wie eine warme Decke einzuhüllen und nahmen ihr jegliche
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