Mythica Bd. 5 - Göttin der Rosen
solche Wesen sich im Wald herumtreiben, warum gibt es dann überhaupt ein Tor? Sollten wir es nicht ein für alle Male versiegeln und dafür sorgen, dass es nie mehr geöffnet wird?«
»Das können wir nicht, Mikado, denn nicht alles im Wald ist böse. Du musst wissen, dass selbst Träume von Zeit zu Zeit mit Realität vermischt werden müssen. Unsere Realität kommt aus dem Wald und von den Realitätsfäden, die aus den Welten jenseits des Waldes zu uns geweht werden.«
»Wirst du morgen als Erstes den Rest der Hecke kontrollieren, um dich zu vergewissern, dass kein anderer Bereich durch die Krankheit der Rosen geschwächt worden ist?«
»Das werde ich, Ihr könnt ganz beruhigt sein, Mikado. Unter meinem Schutz ist das Reich in Sicherheit.«
Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte – sie wusste es, weil sie es tief in sich fühlte. Ihre Intuition sagte ihr klar und deutlich, dass dieser unglaubliche Biestmann sein Leben geben würde, um das Reich der Rose und seine Empousa zu schützen.
»Danke.«
Statt sich wieder gegen ihre Anerkennung zu sträuben, neigte er diesmal nur leicht den Kopf.
Eine Weile nippten sie schweigend ihren Wein, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
»Darf ich dich noch etwas fragen?«, brach Mikki schließlich das Schweigen.
»Selbstverständlich.« Er sah sie mit einem offenen, interessierten Ausdruck an.
»Als ich dich gefragt habe, ob du mir beibringen kannst, wie man Dinge herbeizaubert, hast du gesagt, das kannst du nicht, weil nur diejenigen diese Fähigkeit besitzen, die von den Titanen abstammen. Wer waren denn deine Eltern?«
Er schwieg lange und überlegte, ob er ihr seine Geschichte erzählen oder lieber schweigen und ein Rätsel für sie bleiben sollte. Irgendwann würde sie des Versuchs, dieses Rätsel zu lösen, überdrüssig sein.
Bei dem Gedanken überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von Einsamkeit.
Als er zu sprechen begann, war seine sonst so kräftige Stimme ungewöhnlich gedämpft, und er konnte sie nicht anschauen. Stattdessen starrte er ausdruckslos in die Nacht hinaus.
»Mein Vater ist der Titan Chronos. Eines Tages hat er die alte Insel Kreta besucht und war nicht nur von der Schönheit des meerumbrausten Landes hingerissen, sondern auch von der schönen Pasiphea, in die er sich Hals über Kopf verliebte. Aber sie war keine geistlose Jungfrau. Pasiphea wusste, dass eine Sterbliche, die zur Geliebten eines Gottes wird, meistens ein tragisches Ende nimmt, und deshalb verweigerte sie sich dem Titanen. Chronos jedoch ließ sich von ihrer Zurückweisung nicht beirren – er wartete ab. Als Minos, der König von Kreta, Pasiphea zu seiner Braut machte, sah mein Vater seine Chance. In Minos’ Hochzeitsnacht betäubte er den König, nahm seine Gestalt an und raubte seiner Braut die Jungfräulichkeit. Minos ließ sich von ihm ebenso täuschen wie Pasiphea. Jedoch nicht Chronos’ Frau Rhea. Sie ahnte Chronos’ Untreue und stellte ihn zur Rede, aber er stritt ab, dass er Pasiphea liebte. Im Grunde war das auch nicht gelogen. Denn als er sein Verlangen nach der Sterblichen gestillt hatte, erlosch seine Liebe. Trotzdem war Rhea nicht zufrieden. Sie beobachtete Pasiphea und fand heraus, dass die junge Braut schwanger war, und in einem Anfall eifersüchtiger Wut verfluchte sie Pasipheas Kind. Wenn es tatsächlich der Sohn eines Titanen war, würde er nicht als Mensch oder Gott geboren werden, sondern als Ungeheuer, als eine Kreatur, die in der alten Welt ohnegleichen war. So bin ich entstanden.«
»Du bist also tatsächlich das, worauf der Mythos des Minotaurus beruht!«
Sein leerer Blick fand nun endlich den ihren. »Das ist der Name, den Minos mir gegeben hat. Er hat mich gehasst, vom Moment meiner Geburt an.«
»Und deine Mutter?«
»Pasiphea war freundlicher als ihr Ehemann. Sie hat mich sogar heimlich besucht, und ich weiß noch, dass sie mich, als ich noch klein war, manchmal in den Schlaf gesungen hat.« Er hielt inne und versuchte, seine Gefühle in den Griff zu bekommen.
»Deine Mutter hat dich geliebt.«
Er zuckte zusammen, als hätten ihre Worte ihn körperlich verletzt. »Ich möchte gern glauben, dass sie es versucht hat. Sie hat mich Asterius genannt und sich geweigert, mich mit dem Namen anzureden, den Minos mir gegeben hatte, aber trotz ihrer Freundlichkeit konnte sie nicht vergessen, dass ich ein Ungeheuer bin. Wegen meiner monströsen Gestalt wusste sie auch, dass Chronos es geschafft hatte, in ihr Bett zu kommen, und allein dieser
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