Mythor - 032 - Das Orakel von Theran
nehmen kann. Aber vom Strom des Wissens kann man nur überflutet werden, wenn man die Trittsteine in Andacht begeht.«
Mythor fasste das als Aufforderung auf und überquerte den Strom des Wissens auf die einzig mögliche Art. Aber anscheinend war er nicht bei der Sache, denn als Maluk ihn, auf der anderen Seite angekommen, fragte, ob neues Wissen auf ihn eingeströmt sei, musste Mythor verneinen.
Sie setzten den Weg fort und kamen durch eine Siedlung von Lehmhütten, die dicht beieinanderstanden. Hier brannten nirgends Lichter, nur der Schein des vollen Mondes wies ihnen den Weg. Es war still hier, was Mythor zu der Frage bewog, ob hier das Viertel sei, in dem die Orakeldiener wohnten.
»Unsere Unterkünfte sind hinter den Mauern des Orakels«, antwortete Maluk. »Hinter diesen geschlossenen Fenstern verstecken sich die Kranken, die Hoffnungslosen und Lebensmüden. Sie harren hier aus, bis das Orakel sie ruft, um sie zu heilen, manchmal auch bis zu ihrem Tod.«
»Warum lässt das Orakel zu, dass Menschen sterben, die es heilen könnte?« fragte Mythor.
»Was ist wichtiger, das Schicksal der Welt oder das des einzelnen?« fragte Maluk zurück.
»Du bist durch eine gute Schule gegangen«, sagte Mythor anerkennend, »du weißt auf alles eine ausweichende Antwort.«
Sie kamen zum Pfad der Sinne. Er war durch keine Monumente, keine großartigen Statuen oder Prunkgebäude gekennzeichnet. Er war nur ausgetreten. Mythor erfuhr, dass der Pfad der Sinne als Karawanenstraße nach Nordsalamos, Tainnia und in die nördlicheren Länder weiterführte. Und er endete an der Mauer der Besinnung. Hier endete auch noch eine zweite Karawanenstraße, die von den Lanzenblattbäumen umsäumt wurde und Palmen-Allee hieß. Diese führte nach Leone, in das Gebiet der Sarronen und zur Bucht von Aspira.
»Ich war in Leone und auf dem Baum des Lebens«, sagte Mythor. Aber Maluk ging nicht darauf ein. Er wies auf die Reihe von Männern und Frauen, die mit überkreuzten Beinen vor der hohen, verwitterten Mauer saßen und sie anstarrten.
»Diese Pilger warten auf Erleuchtung«, erklärte Maluk flüsternd. »Schon mancher hat hier gefunden, was er zeitlebens vergeblich suchte. Du glaubst, die Mauer sei unbehauen, glatt und leer. Aber wenn du lange genug vor ihr verweilst, wirst du sehen, dass sie voller Bilder ist.«
Mythor harrte lange sitzend vor der Mauer aus. Ihm war, als verbringe er die halbe Nacht in Bewegungslosigkeit davor. Doch als er zu Maluk zurückkehrte, sagte ihm dieser, dass er ebenso lange, wie Mythor dagehockt sei, den Atem angehalten habe. Und er fragte: »Was hast du gesehen?«
»Nichts.«
Maluk wirkte enttäuscht. Wortlos machte er kehrt und führte Mythor wieder zurück über den Strom des Wissens, den Pfad des Geistes und den der Tiere mit dem angrenzenden Tiergehege, um das sie jedoch einen Bogen machten.
»Wohin bringst du mich?« fragte Mythor, als sie schon endlos lange dahingegangen waren. Die Beine waren ihm so schwer, als steckten sie in eisernen Sandalen, in seinen Eingeweiden tobte der Dämon Hunger, und seine Sinne waren wie taub.
»Du musst noch den Steinernen Weg kennenlernen«, sagte Maluk.
»Der meine ist mir beschwerlich genug«, sagte Mythor murrend, aber der Orakeldiener überhörte es. Endlich kamen sie zu einem ausgetretenen Pfad, der von großen, unbehauenen Steinen umsäumt war. Manche dieser Felsen trugen kleinere auf sich, die den Eindruck erweckten, als könnten sie beim leisesten Windhauch herunterfallen.
Am Ende dieses Steinernen Weges, gerade vor der Mauer, die das eigentliche Orakel umgab, war das Standbild eines kauernden Riesen zu sehen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Mythor jedoch, dass es sich um gewachsenen Fels handelte, der nur im Mondlicht wie ein kauernder Riese aussah.
Davor vollführten Männer und Frauen und sogar Kinder seltsame Verrenkungen und erweckten den Eindruck, als würden sie mit Unsichtbaren ringen.
»Der Fels der Bewährung. Hier kannst du dich selbst besiegen«, sagte Maluk. Es war wiederum eine Aufforderung, der Mythor Folge leisten musste. Aber er beschloss bei sich, dass es das letzte Mal sein würde, dass er auf derartige Wünsche des Orakelpriesters eingehen wollte. Lieber verzichtete er auf dessen Unterstützung.
Mythor betrachtete den Fels der Bewährung eingehend, aber er verspürte nicht den Wunsch, mit der Luft zu ringen. Er harrte diesmal auch nur ganz kurz aus. Als er zu Maluk zurückkehrte, befragte der ihn auch gar nicht. Der Orakeldiener
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