Mythos
gedankenverloren durch das, was ein Friseur vermutlich als fedrigen Shortcut mit langem Pony bezeichnet hätte. Sie nannte es widerspenstige Haare.
Vielleicht war ihre Suche nach bislang unentdeckten Hinweisen auf den Verbleib der Rosario reine Zeitverschwendung. Es bestand die Gefahr, dass die Überreste des Schiffes und sein Schatz weit über den Meeresboden von Sandy Point verstreut lagen. Und wenn nicht, dann hatten die Strömung und die Stürme der vergangenen drei Jahrhunderte das Wrack vielleicht tief unter dem Sand vergraben. Jetzt drohten die Behörden in Florida damit, die Suche nach untergegangenen Schiffen und die Bergung von Schätzen durch private Unternehmen zu erschweren. Dabei war die ernsthafte Suche nach Wracks sowieso schon schwierig, langwierig, teuer – und in der Regel erfolglos.
Sie wusste, dass Robert York sie nach Sevilla geschickt hatte, weil die Genehmigung zur Schatzsuche, die seine Bergungsfirma besaß, demnächst ablief. Es sollte der letzte Versuch sein, in den seichten Gewässern vor der Küste Floridas doch noch die Ladung der Rosario zu finden. Dann war damit Schluss. York hatte den Schwerpunkt der Schatzsuche schon vor Jahren in die Tiefsee verlegt. Sollten doch Hobbyforscher und Kleinunternehmer mit ihren Metalldetektoren nach einzelnen Silbermünzen und hier und dort einer Kanone suchen. Yorks Ambitionen waren größer.
Und Nora Tilly wollte daran teilhaben. Seit 15 Jahren hatte sie davon geträumt, Schätze aus einer anderen Zeit zu finden. Aztekengold, peruanisches Silber, Smaragde aus Neu-Granada, Tempel im Regenwald von Yucatán, die verschollene Stadt Paititi hatten ihre Gedanken beherrscht. Sie war von dem Wunsch besessen, ins Unbekannte vorzudringen und Vergessenes wiederzufinden, seit sie von ihrem Vater zur Kommunion das Buch Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson bekommen hatte. Zusammen mit Jim Hawkins, Squire Trelony und Long John Silver war sie auf der Hispaniola aufgebrochen, um den Schatz von Captain Flint zu finden. Danach war auf jedem Kindergeburtstag die Schatzsuche der Höhepunkt der Party gewesen, auf jeder Urlaubsreise hatte sie in Burgruinen oder Höhlen die finstersten Ecken untersucht, in der kindlichen Hoffnung, etwas zu finden, das in den vergangenen Jahrhunderten übersehen worden war. Während ihre Klassenkameradinnen Jungs entdeckten und das passende Make-up zu der neuen Handtasche, hatte sie sich einen alten Metalldetektor besorgt und einen kleinen Schatz von römischen Münzen und Lanzenspitzen zusammengetragen. Sie hatte die Bücher von C. W. Ceram, Heinrich Schliemann und Percy Fawcett verschlungen und die Berichte über die Himmelsscheibe von Nebra verfolgt. Gebannt hatte sie alle Folgen von Terra X geschaut. Sie hatte sich alle Romane und Filme über Indiana Jones, Allan Quatermain und andere Schatzsucher angeschaut und schnell begriffen, was für ein Unsinn das war. Die Bundeslade und Kali-Opferkulte, der Heilige Gral und Kristallschädel, die zu Städten aus purem Gold führen sollten – wieso musste der Archäologe Henry „Indiana“ Jones nur solche albernen Abenteuer erleben? Großer Fehler, Indie, dachte sie, großer Fehler. Die Realität war viel spannender. Und die ernsthafte Suche nach Schätzen machte nur Sinn, wenn man Hinweisen in Originalquellen nachging, die man vor dem Hintergrund ihrer Zeit lesen musste. Deshalb hatte sie Geschichte studiert und sich auf die Paläografie spezialisiert. Denn „nur wer weiß, wie man die Karte lesen muss, findet auch den Weg“, hatte ihr Vater immer gesagt.
Seit drei Jahren lebte sie nun den Traum, statt nur noch zu träumen. Robert York hatte das möglich gemacht.
Sie leerte ihre Tasse und winkte der Bedienung.
Rob York! Beim Gedanken an ihren Boss sank Tillys Launspe Tillyse in den Keller. An der erfolgreichen Suche nach zwei spanischen Wracks war sie beteiligt gewesen! Und jetzt war alles schiefgegangen.
York hatte sie vor allem deshalb nach Sevilla geschickt, damit ein möglichst großer Abstand zwischen ihnen war. Das war ihr klar. Damit sie ihn nicht noch einmal in Versuchung führen konnte. Geh zum Teufel, dachte sie. Verdammter Bastard.
Immerhin … sie konnte immer noch in einer tollen Stadt arbeiten und das tun, was sie am liebsten tat.
Die Frage war nur: Wie lange noch?
Der Lesesaal hatte sich bei ihrer Rückkehr etwas geleert. Viele der Studenten und Forscher machten gegen 11 Uhr Mittagspause. Ein alter Mann fiel ihr auf, der schon gestern neben ihr gesessen hatte.
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