Mythos
Eine weiße Tunika mit schwarzem Gürtel und ein Überwurf mit Kapuze in der gleichen Farbe wiesen ihn als Ordensbruder aus. Über die Stuhllehne hatte er einen schwarzen Radmantel mit Kapuze gehängt. Lange graue Haare fielen ihm in den Nacken, während sein Scheitel völlig kahl war. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Mönch einen Stapel mit Originaldokumenten vor sich liegen hatte, die er mit einer großen Lupe untersuchte.
Plötzlich hob er den Kopf und blickte sie grinsend durch das Glas an. Sein Auge wirkte dadurch riesig. Verblüfft setzte sie sich zurück. Der Mönch nickte ihr lächelnd zu und beugte sich wieder über seine Papiere.
Ein Komiker im Namen des Herrn, dachte sie – und vergaß ihn im nächsten Augenblick. Ihre Augen waren an einer Stelle auf dem Pergament vor ihr hängen geblieben.
… viento seguía empujándonos hacia las aguas menos profundas …
Wind, übersetzte sie in Gedanken, blies weiter und trieb uns in Richtung Ufer mit seinen Untiefen.
Der Augenzeuge hatte den Punkt erreicht, an dem die Katastrophe begonnen hatte. Mit neuer Energie überflog sie die Zeilen, suchte nach weiteren leserlichen Stellen.
… no pudimos utilizar ninguna de las velas …
… konnten keines der Segel mehr einsetzen … riesige Wellen … sah, wie die Capitana vor dem Ufer in Stücke brach … auch die Rosario auf Grund … etliche über Bord gespült bevor … Admiral Francisco Salmón … Überlebende im Lager … Hilfe aus der Festung San Augustin …
Nach zwei Stunden hatte sie vier Seiten vollständig entziffert. Sie lehnte sich erschöpft und frustriert zurück. Dieser Bericht enthielt keine neuen Informationen. Die Arbeit war völlig umsonst gewesen. Sie schob das Dokument zur Seite und schnürte das zweite Bündel auf.
„Merda!“
Überrascht sah sie auf. Der Fluch war dem Mönch entschlüpft. Der alte Mann schüttelte verärgert den Kopf und murmelte halblaut vor sich hin. Tilly schnappte die Worte „in tedesco“ auf.
War der Mann tatsächlich auf ein Dokument in deutscher Sprache gestoßen? Das war ungewöhnlich. Äußerst ungewöhnlich.
Der Mönch bemerkte, dass sie ihn anschaute. Er setzte eine dicke Brille auf und schaute herüber.
„Perdono“, flüsterte er.
Sie nickte ihm zu und beugte sich vor. „Das Dokument ist in Deutsch geschrieben?“, fragte sie leise auf Spanisch.
„Si“, antwortete er und zuckte mit den Achseln. „Und damit kann ich nichts anfangen“, antwortete er in der gleichen Sprache, allerdings mit italienischem Akzent.
„Ich bin aus Deutschland.“ Sie rückte auf den leeren Platz neben ihm. „Soll ich mal einen Blick darauf werfen?“
Der alte Mann schaute sie über seine Brillenränder an.
„Warum nicht?“, sagte er dann und schob ihr zwei Pergamentbögen hinüber. Gespannt schaute sie auf das erste Blatt. Der Mönch hatte recht. Es war eindeutig deutsch.
Meinem lieben Hern und Freund Philipe von Hutten zw Coro, Prouinz Venezola.
Mein willig Dienst zuvor, lieber Señor Philipe. Jch habe hi wider ankommen seyd nach eurer Reiß.
Es war offenbar ein Brief. Sie schaute sich das nächste Blatt an. Dort stand der Absender: Gaspar Riz de Santo Galo, Trujillo, Pirú am 10. Tag Septembris im Jahr 1539. De Santo Galo bedeutete „aus Sankt Gallen“.
Sie erklärte dem Mönch leise, um was es sich bei dem Dokument handelte.
„Ein Schweizer? Was machte ein Schweizer in den spanischen Kolonien des 16. Jahrhunderts?“ Der Geistliche runzelte die Stirn.
Das ist eine gute Frage, dachte Tilly. Vielleicht war sie hier auf ein kleines historisches Juwel gestoßen. Sie überflog das Pergament. Bevor sie dem Alten die Papiere zurückgab, musste sie herausfinden, worum es ging. Leise murmelte sie vor sich hin, was sie entzifferte. Dann stutzte sie und beugte sich vor.
… am Reichtumb kain Zweiffel. Jch verpfflicht mich bey mein Kopff vnd Seligkait, das gedachter Reichtumb uns zu guten komen möcht. Ist eyn Thail von jem mechticherm Reichtumb, welchen gemelter Pissaro in Peru vom Atabaliba that fordern. Will davon nit hie vil redt, gibt bloß bös Geschrey und Neidt. Hab sunst jnsgeheim jn der Sach der Leng schriben, wie es sich allenthalben auff meyner Rais verloffen. Ist auch eyn Derrotero …
Es verschlug ihr den Atem. Elektrisiert richtete sie sich auf. „Großer Reichtum, Pizarro in Peru, das Lösegeld des Atahualpa, ein Derrotero“, flüsterte sie. Das waren Worte, die bei jedem Schatzsucher Reflexe auslösten.
„Derrotero!“ Allein das Wort
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