Mythos Ueberfremdung
Bat Ye’or begierig auf und verschärfte die Gangart noch: »Europa ist nicht mehr Europa, es ist ›Eurasien‹, eine Kolonie des Islam, in der die islamische Invasion nicht nur im physischen Sinn voranschreitet, sondern auch in geistiger und kultureller Hinsicht«, sagte sie 2005 dem Wall Street Journal . Allerdings hatte sie die demografischen Behauptungen, die hinter dem Argument der »muslimischen Flut« standen, bereits auf die allergröbste Art übernommen, als sie in ihrem 2001 zunächst in Italien erschienenen Bestseller La rabbia e l’orgoglio (dt.: Die Wut und der Stolz, 2002) schrieb, dass sich die »Söhne Allahs vermehren wie die Ratten«.
Sprachgebrauch dieser Art schien nach den Anschlägen des 11. September eine neue Berechtigung zu haben. Vielen Menschen fiel es in dem von Angst und Misstrauen geprägten gesellschaftlichen Klima jener Jahre schwer, zwischen islamischem Terrorismus und einfachen Muslimen zu unterscheiden. Und hier erhob sich nun eine – auf ein solches Er eignis umfassend vorbereitete – Stimme, die lauthals verkün dete, einen sol chen Unterschied habe es nie gegeben. Die unmittelbarste Wirkung von Littmans Œuvre bestand darin, dass sie eine Reihe von extremistischen Blogs inspirierte, die mit ihren Neologismen durchsetzt waren: Der vom amerikanischen Aktivisten Edward (Ned) May gegründete Blog »Gates of Vienna« warnte vor einem »weltweiten Dschihad«, rief zur Vertreibung aller Muslime aus Europa auf und unterhielt enge Beziehungen zu Breiviks Freunden und Unterstützern. Dann waren da zum Beispiel noch »Atlas Shrugs«, betrieben von der Amerikanerin und antimuslimischen Unruhestifterin Pamela Geller (Autorin von Büchern wie Stop the Islamization of America: A Practical Guide to the Resistance) , und »Jihad Watch«, betrieben von dem Provokateur Robert Spencer, dem Autor so denkwürdiger Bücher wie The Truth About Mohammed: Founder of the World’s Most Intolerant Religion.
Solche schrillen Botschaften, denen sich in den zornigen Jahren des Irak-Kriegs einschlägig bekannte, gegen Einwanderung und Muslime wetternde amerikanische Stimmen wie Daniel Pipes und Patrick Buchanan anschlossen, erlebten einen langsamen Aufstieg von den extremistischen Randbereichen des Internets in angesehenere Kreise und spielten schließlich, nach dem Ende von George W. Bushs Präsidentschaft, eine einflussreiche Rolle in der Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei. Auf diesem Weg nahmen sie eine Reihe älterer, noch wirkungsmächtigerer Ängste in ihre Argumentation auf.
Der Selbsthass des Westens
»Kann man mit anderen Leuten noch dasselbe Europa haben?« (»Can Europe be the same with different people in it?«) – diese neun Worte des Financial-Times -Kolumnisten Christopher Caldwell, die auf dem Cover der vielen Auflagen seines 2009 erschienenen Buches Reflections on the Revolution in Europe: Immigration, Islam and the West zu lesen sind, bieten eine prägnante Zusammenfassung der Ängste, unter denen die Bewegung, die an eine muslimische Flut glaubt, leidet. Und sie sind eine bündige Demonstration der grundsätz lichen Unlogik ihrer Argumente. Diese neuen Einwanderer sind schließlich, wie wir im folgenden Teil des Buches sehen werden, auch nicht ausgeprägter »anders« als frühere, größere Wellen religiöser Minderheiten, die heute unter der Bevölkerung der meisten westlichen Länder anzutreffen sind. Doch genau das hat sich zur gängigen Meinung über musli mische Einwanderer entwickelt: Sie sind anders, und sie werden uns zwingen, anders zu sein.
Caldwells Argumentation ist insofern neu, als er nicht einfach behauptet, die Muslime planten, den Westen zu übernehmen. Stattdessen gibt er uns die Schuld und bezieht sich dabei in erster Linie auf den moralischen und geistigen Zusammenbruch der westlichen Gesellschaften. »Die spirituelle Geschmacklosigkeit, die islamische Einwanderer in den modernen westlichen Ländern wahrnehmen, ist nicht eingebildet«, schreibt Caldwell gleich zu Beginn. »Bei der Bewahrung der eigenen Kultur ist sie vielleicht Europas größte Belastung.« Wie die früheren antimuslimischen Autoren sieht auch Caldwell die Muslime als illoyale Neuankömmlinge, die den Westen überschwemmen werden und deren Glaube sich besser als Ideologie beschreiben lässt: »Man stelle sich vor, der Westen hätte auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs einen massenhaften Zustrom von Einwanderern aus kommunistischen Ländern aufgenommen, die sich nicht
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