Mythos Ueberfremdung
entscheiden konnten, welche Seite sie unterstützen sollten. […] Zur Zeit spielt sich etwas Ähnliches ab.« Aber er fügt diesem Gedanken etwas Neues hinzu: Bewunderung, ja sogar Neid auf die spirituelle Stärke und den organisatorischen Zusammenhalt der Muslime und eine entsprechende Angst vor dem Verschwinden solcher Eigenschaften im Westen. Sein Buch bezieht seine Stärke – wie so viele andere Veröffentlichungen der letzten Jahre – aus der Wiederbelebung zweier mächtiger, lange Zeit ruhender Vorstellungen.
Die erste ist der Kampf der Kulturen. Als Samuel Huntington diesen Begriff mit seinem Buch Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (1996) kurz nach dem Ende des Kalten Krieges wieder in unseren Sprachgebrauch einfließen ließ, klang sein Argument in vernünftigeren Ohren wie eine moderne Wiederbelebung der mittelalterlichen Vorstellung von rivalisierenden religiösen Reichen – ein Szenario, das vom jahrhundertelangen kulturellen Zusammenwachsen und wirtschaftlichen Verbindungen in den Hintergrund gedrängt worden war. Doch nach dem 11. September gefiel die Vorstellung von monolithischen, nicht zueinander passenden »Kulturen« plötzlich den islami schen Extremisten im Osten genauso gut wie den islamfeind lichen Autoren und Politikern im Westen. Unter radikalen Islamisten wie unter radikalen antiislamischen Kräften sprach man jetzt wieder gerne von einem spirituellen Niemandsland zwischen zwei klar voneinander zu unterscheidenden Blöcken der Menschheit.
Die zweite verführerische Vorstellung ist der Untergang des Abendlandes. Schon bevor Oswald Spenglers 1918 und 1922 in zwei Bänden erschienener Bestseller diesen Begriff in unseren Sprachgebrauch einführte, sprach man in bestimmten konservativen Kreisen in wirtschaftlich oder militärisch schwierigen Zeiten gerne davon, die Gesellschaften der westlichen Länder hätten ihn mit ihrem »moralischen Niedergang« selbst herbeigeführt – meist war das eine Anspielung auf die durch den Einfluss der Aufklärung geschwundene Macht der Kirche.
Dieses Ideengemisch – Zivilisationskritik und Unter gangsvorstellung – gab dem Argument von der muslimischen Flut einen kräftigen neuen Impuls der Selbstbezichtigung für Europäer (und manchen Amerikanern ein starkes Gefühl der Bedrohung, das sich nicht nur auf islamische Glaubensüberzeugungen, sondern auch auf die rückgratlose europäische Säkularisierung bezog). »Europa wird, so viel ist sicher, aus seiner Konfrontation mit dem Islam verändert hervorgehen«, schreibt Caldwell, der sowohl die Aufklärung als auch die Befreiungsbewegungen der 1960er-Jahre als schreckliche Fehler empfindet, die einen Zusammenbruch des europäi schen Christentums verursachten und zu postmoderner Dekadenz führten. »Wenn eine unsichere, formbare und relativistische Kultur auf eine Kultur trifft, die einen festen Halt hat, zuversichtlich ist und durch gemeinsame Grundsätze gestärkt wird, verändert sich im Allgemeinen die Erstere mit dem Ziel, sich der Letzteren anzupassen.«
Caldwell formulierte die höfliche Version dieses Arguments, aber es gab auch Autoren, die eine direktere Ausdrucksweise wählten. Eines der erfolgreichsten britischen Bücher seit der Jahrtausendwende war Londonistan aus der Feder der Daily-Mail -Kolumnistin Melanie Phillips. Sie brachte zunächst das ziemlich plausible Argument vor, London sei zu einer Brutstätte des islamistischen Terrors geworden (was zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit Sicherheit zutraf), schob dann aber die Behauptung nach, die Mehrheit der britischen Muslime befürworte den Dschihad und die Scharia. Großbritannien sei »ausgehöhlt« worden, schrieb Phillips, und zwar durch »den von säkularen Nihilisten inszenierten Angriff auf die jüdisch-christlichen Werte des Landes, […] eine ausschweifende und unordentliche Kultur der sofortigen Befriedigung von Bedürfnissen, mit sich auflösenden Familien, zügellosen Kindern und Gewalt, Verkommenheit und Vulgarität auf den Straßen.« Nach Phillips’ Überzeugung hat uns unsere säkulare Unmoral den islamischen Radikalismus eingebracht.
Wenn Caldwell der kühl argumentierende Prediger von der Erbsünde und der bevorstehenden Endzeit ist, dann gibt der Kanadier Mark Steyn seinen Chorleiter in der komischen Oper. Steyn war jahrzehntelang ein angesehener Autor, der über das Musiktheater schrieb und Bücher wie Broadway Babies Say Goodnight veröffentlichte. Steyn voll
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