Mythos
Brasilien war Tilly vertraut. Auch hatte es da einen Hans Staden gegeben, einen deutschen Landsknecht, der mit den Portugiesen in Brasilien gewesen und in die Hände von Kannibalen geraten war – worüber er ein äußerst erfolgreiches Buch geschrieben hatte.
Aber dass deutsche Konquistadoren in Venezuela sogenannte Entradas unternommen hatten, Erkundungs- und Eroberungszüge ins Landesinnere von Südamerika, hatte sie überrascht. Auch von einem Handelshaus namens Welser, offenbar einer Art Konkurrenz zu den bekannteren Augsburger Fuggern, hatte sie noch nie gehört. Dabei war sie doch Historikerin.
Wer Gaspar Riz de Santo Galo war, hatte sie nicht herausgefunden. Wenn es sich um einen Schweizer aus Sankt Gallen handelte, war er vermutlich auf den Namen Caspar oder Kaspar getauft worden. Doch auch das hatte sie nicht weitergebracht.
Sie musste mehr über die Welser und ihre Geschäfte in den westindischen Ländern herausfinden. Und sie musste Rob York anrufen und ihm von dieser Sache erzählen. Das hier war wichtiger als die fruchtlose, frustrierende Suche nach dem Wrack der Rosario .
Sie band sich die Haare mit einem Band zurück, legte sich ein Tuch um die Schultern und trat hinaus auf die Straße.
Von der vierspurigen Brücke Isabel II. über den Guadalquivir aus konnte sie hinter einem Schleier aus Staub und Abgasen den Torre del Oro ausmachen. Aus der Ferne war der uralte Goldturm nicht eindrucksvoller als ein Getreidesilo. Sie lief unter den Palmen, die die Promenade vom Fluss trennten, in Richtung Südosten und bog vor der Stierkampfarena ab in die kleinen Gassen von El Arenal. Belotti hatte seine Wohnung am Ende einer schmalen Einbahnstraße. Die vierstöckigen Häuser gingen auf beiden Seiten der Santas Patronas nahezu nahtlos ineinander über. Es war die für Sevilla typische Mischung aus restaurierten Fassaden und abbröckelndem Putz, schmiedeeisernen Gittern und Fenstervorsprüngen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie Balkon oder doch nur Blumenbank sein wollten. Vor vielen Fenstern hockten Blumentöpfe, aus denen Pflanzen in die Tiefe hingen. Kleinwagen und kleine Kombis standen akkurat aneinandergereiht am Straßenrand. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Ein junger Mann bretterte auf einem Motorroller an ihr vorbei.
Das Haus, in dem Belotti wohnte, zeichnete sich durch eine der wenigen dunklen Fassaden aus. Eine antike Klimaanlage sog brummend kühle Abendluft in das Haus. Sie betrat den finsteren Flur und folgte der schmalen Treppe hinauf in den zweiten Stock.
Aus Belottis Wohnung drangen laute Stimmen. Schüsse knallten, Reifen quietschten. Sah sich der alte Priester tatsächlich einen Actionfilm an? Sie schaute noch einmal auf das Namensschild neben der Türklinke und drückte auf die Klingel. Der Mönch reagierte nicht. Sie klingelte noch einmal. Der Dominikaner musste ihre Verabredung vergessen haben und war offenbar schwerhörig. Obwohl sie eigentlich nicht diesen Eindruck gehabt hatte. Sie seufzte. Sollte sie wieder gehen? Ach, was solls, dachte sie und drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie trat in einen langen, dunklen Flur.
Eine Bewegung ließ sie zusammenfahren. Ihr erschrockenes Gesicht schaute aus einem Ankleidespiegel zurück. Fehlte nur noch eine Katze, die ihr auf die Schulter sprang. In der Mitte des Flures drang der Lärm und das flackernde Licht des Fernsehers durch eine offene Tür. Wieso roch es hier so stark nach Urin?
Sie drückte die Wohnungstür zu. Schweiß lief ihr die Schläfen hinunter. Sie musste sich bemerkbar machen, rufen. Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. Stattdessen machte sie leise einen kleinen Schritt vorwärts. Und noch einen Schritt.
Gab es so etwas wie Bedrohung, die in der Luft lag? Wenn ja, dann erlebte sie das in diesem Augenblick.
Sie passierte einen kleinen Raum zur Rechten. Ein schmaler Lichtstrahl zwischen gesc bewischenhlossenen Fensterläden fiel auf ein Waschbecken aus Emaille. Das Bad. Hinten im Gang verschluckten zwei weitere offene Türen das Licht.
Flugzeugturbinen wurden von dramatischer Musik unterlegt. Jemand stöhnte. Sie hörte Klicklaute. „Yippi kay yay, motherfucker“, tönte eine heisere Männerstimme aus dem Fernseher.
Dann stand Tilly an der Tür zum Wohnzimmer.
Belotti saß in der Mitte des Zimmers auf einem Stuhl, seine Haut schimmerte bläulich im Licht des Fernsehers. Ein zweiter Mann stand mit dem Rücken zur Tür. Er beugte sich über ihn, als wollte er dem Mönch
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