Mythos
davon.“ Sie strich zärtlich über das Papier.
„Ich habe schon begriffen.“ Der Mann lachte und tippte sich an die Stirn. „Sie sind verrückt“, sagte er. „Aber das ist in Ordnung. Ich habe nichts gegen Verrückte, solange sie nur nach Schätzen suchen und nicht mit einem Messer in der Tasche herumlaufen.“ Er blinzelte ihr zu. „Haben Sie ein Messer in der Tasche?“
Tilly schüttelte verwirrt den Kopf.
„Also dann“, willigte der Mönch ein, „arbeiten wir zusammen. Ich bin Padre Pietro Belotti.“
Der Mönch stand auf und reichte ihr die Hand. Er war schlank und mindestens zwei Köpfe größer als sie. Sein Gesicht und seine Hände waren voller Falten und Altersflecken. Sie schätzte ihn auf 70, vielleicht 80 Jahre. Trotz seines hohen Alters hielt er sich sehr gerade.
„Nora Tilly“, stellte sie sich vor. Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Von der Universität Konstanz am Bodensee.“
Das war gelogen. Aber sollte dieser Mönch auf die Idee kommen, es zu überprüfen, würde man sich dort zumindest an eine Diplomandin mit diesem Namen erinnern.
„Wie haben Sie diese Papiere entdeckt?“, fragte sie Belotti.
Der Mönch wies zur Tür. „Lassen Sie uns doch für eine Weile hinausgehen“, sagte er leise. „Dann können wir uns in einer vernünftigen Lautstärke unterhalten.“
Er winkte nach einer der Assistentinnen und erklärte ihr, dass er die Dokumente ausgedruckt haben wollte. Sie füllten ein Auftragsformular aus. Dann schob er die Papiere zusammen und griff nach seinem altmodischen Radmantel. Gemeinsam gingen sie in die Registrierung und holten den Zahlungsauen n Zahluftrag ab. In der kleinen Bank in der Santo Tomás bezahlten sie die Kopien, die nun im Archiv ausgedruckt würden.
Der Mönch nahm Tilly am Arm und zog sie über die Straße. Sie wichen den Touristen aus, die in einer langen Schlange vor dem Löwentor standen. Wie immer, wenn Tilly die Plaza del Triunfo betrat, fiel ihr Blick als Erstes auf das ehemalige almohadische Minarett aus dem 12. Jahrhundert, die Giralda, die schon lange als Glockenturm der Kirche Santa María de la Sede diente. Dann wanderten ihre Augen hinüber zu dem riesigen Fenster der gotischen Kathedrale, hinter dem sich das Grab von Christof Kolumbus befand. Der Platz vor der Kirche war voller Menschen. In der Luft lag ein Geruch nach Orangen und Pferden. Tauben flatterten auf, als der Mönch sie an den schwarzen Kutschen mit ihren gelben Rädern vorbeizog, die unter den hohen Palmen und gusseisernen Laternen vor dem Archivo General auf Kundschaft warteten.
Sie betraten das Museum mit seiner schlichten Renaissancefassade. Sobald die große Tür hinter ihnen zufiel, war es still. Padre Belotti führte Tilly die imposante Marmortreppe hinauf ins erste Stockwerk. Sie gelangten in einen langen Saal mit hohem Kassettengewölbe und einem Boden aus Marmorplatten. An den Wänden füllten helle Boxen die dunklen Regale bis zur Decke.
Nur wenige Menschen waren unterwegs. Der Mönch ging zielstrebig zu einem großen Porträt hinüber, das zwischen den Regalen hing. Der Mann auf dem Bild trug das gleiche Habit wie der Padre, und auch seine Haartracht war identisch. Er blickte verkniffen, fast finster auf die Besucher des Museums herab.
„Darf ich vorstellen“, sagte Belotti. „Padre Bartolomé de Las Casas. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten unseres Ordens.“
„Und welcher Orden ist das?“, fragte Tilly.
Der Padre zupfte an seinem Überwurf. „Der Predigerorden.“ Belotti schaute versonnen auf das Porträt über ihren Häuptern. „Die Dominikaner.“
Die Domini Canes, dachte Tilly, die Hunde des Herrn. Sie erinnerte sich, dass Mitglieder dieses Ordens sich besonders als Inquisitoren hervorgetan hatten. Sofort wurde ihr Belotti ein wenig unsympathisch. Belotti zeigte auf den Stuhl unter dem Porträt und holte sich selbst eine Sitzgelegenheit von der gegenüberliegenden Wand. Dann streckte er die langen Beine von sich.
„Bartolomé de Las Casas war einer der wenigen Europäer, die bereits zur Zeit der Konquista für die Rechte der Indios eingetreten sind“, begann er und fingerte an dem Holzkreuz, das an einer langen Schnur um seinen Hals hing.
„Las Casas“, erklärte er, „war erst Konquistador und dann Priester auf Hispaniola gewesen, der Insel, die sich heute Haiti und die Dominikanische Republik teilen. Einige Dominikanermönche hatten dort das Verhalten der Eroberer gegenüber den Einheimischen heftig kritisiert.
Sind denn diese
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