Nach dem Ende
sich, ob sie schwerer war, solange sie noch gelebt hat – ob es das Leben war, das ihr so viel Gewicht verlieh, dass sie nicht bei jedem Windstoß davongeflogen ist.
Sanft legt er sie hin, faltet ihr die Hände über der Brust und zupft ihre Kleidung zurecht, damit sich nichts an den Schultern und Schenkeln verknäuelt.
Am Grab sucht er nach Worten, die er sprechen könnte, doch keins der ihm bekannten Gebete passt auf diese Situation, also begnügt er sich mit: Kleine, Kleine.
Und dann sagt er es noch ein drittes Mal, weil es ihm richtig vorkommt: Kleine.
Er schaufelt das Grab zu und setzt die Grassoden wieder darüber. Sie ist so winzig, dass die Erde kaum erhöht ist, wo sie liegt.
In dem ehemaligen Blumengarten an der Rückseite des Hauses entdeckt er einen Ziegel. Er hockt sich auf die Eingangsstufe und ritzt ihren Namen hinein:
SARAH MARY WILLIAMS
Und dann macht er ein kleines Loch am Kopf des Grabs und bettet den Ziegel halb in die Erde, damit die Engel sie finden können, wenn sie nach ihr suchen.
Zuletzt fällt ihm noch etwas ein. Er nimmt das Gewehr, das er schon weggeräumt hat, und legt es auf ihr Grab, denn schließlich war sie auch eine Kriegerin.
Zurück im Haus steigt er die Treppe hinauf zum Schlafzimmer von Jeb und Jeanie Duchamp. Er räumt auf und orientiert sich an den Abdrücken im Teppich, um die Stühle wieder an ihren Platz zu stellen.
Nachdem er die Pistole hinter dem Nachttisch herausgefischt hat, geht er auf Hände und Knie, hebt die Rüschenumrandung und tastet unter dem Bett herum, bis er auf das Gesuchte stößt. Er zieht es heraus und wendet den Gegenstand in den Händen.
Das Gurkhamesser. An manchen Stellen blitzt die Klinge noch hell und zeigt ihm sein gealtertes, trübseliges Auge.
Nach einem letzten Blick durch den Raum trabt er wieder hinunter und ist schon halb durch die Eingangstür, als er aus dem Speisezimmer ein Geräusch hört.
Der große Kerl mit den massigen Gliedmaßen sitzt in einer Ecke auf dem Boden und hält etwas in der Hand. Mit diesen flachen Keramiktellern von Augen starrt er Moses ausdruckslos an.
Da hast du dich also versteckt, sagt Moses Todd. Hab mich schon gewundert, wo du abgeblieben bist.
Er holt sich einen Stuhl vom Esstisch und dreht ihn um, damit er sich Maury gegenübersetzen kann. Moses Todd ist ein Hüne, und sein Gewicht ruht schwer auf dem alten Holz des Stuhls, der seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr die Bürde eines Menschen tragen musste.
Eine Weile schauen sich die zwei bloß an. Moses, auf seine Knie gestützt, dreht das Gurkhamesser hin und her. Es fängt die durch das Fenster kriechenden Sonnenstrahlen ein und wirft das Licht in weitem Bogen um die beiden Gestalten.
So hätte es nicht kommen sollen, stellt er schließlich fest.
Er möchte es jemandem erklären, möchte erklären, was da schiefgelaufen ist.
So einen läppischen Tod hat sie nicht verdient. Das Sterben muss genauso einen Sinn haben wie das Leben.
Forschend schaut er Maury ins Gesicht und nickt, zufrieden über das, was er dort entdeckt. Dann weist er mit dem Kinn auf den Gegenstand in Maurys Händen.
Was hast du denn da?
Moses streckt den Arm aus, und Maury gibt ihm eine Glaskugel, in der sich etwas befindet, das aussieht wie eine Blume, aber keine ist.
Moses lässt das Ding über die Handfläche rollen. Gewicht und Form behagen ihm. Es gibt nicht viele Dinge auf der Welt, die so klar und eindeutig sind.
Hübsch.
Maurys Blick wandert fragend zwischen Moses Todds Gesicht und dem Gegenstand hin und her.
Soll ich dir mal was erzählen? Ich hatte mal eine Tochter. Sie hieß Lily, wie die Blume. Ihre Mutter hat sie im Wohnwagen nach Jacksonville mitgenommen. Ich sollte die zwei dort treffen, aber sie sind nie aufgetaucht. Der ganze Wohnwagen ist einfach verschwunden. Zwei Jahre lang bin ich auf den Straßen zwischen Orlando und Jacksonville rumgefahren, kreuz und quer.
Die Erinnerung lässt ihn innehalten.
Wenn man zwei Jahre nach was sucht, sieht man es auf einmal überall. Lily in den Armen ihrer Mutter, wie Gespenster. Hinter jedem Plakat. Hinter jeder verfluchten Ecke. Es wurde so schlimm, dass ich mit dem Suchen aufhören musste. Sonst hätte mich die Fülle von Vergangenem einfach begraben.
Er wendet die Glaskugel in den Händen.
Sie wäre jetzt wahrscheinlich ungefähr in ihrem Alter. Er nickt in Richtung Vorgarten.
Er gibt die Kugel Maury zurück, der sie mit beiden Händen an die Brust drückt.
Wirklich ein schönes Spielzeug. Dann erhebt
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