Nach dem Ende
weißer Streifen erscheint.
Bleib hier, fordert sie Maury auf. Ich schau mich ein bisschen um.
Zuerst tritt sie zum Kamin, um das Holz zu untersuchen. Einige Scheite brennen bestimmt noch nicht länger als eine Stunde. Auf der anderen Seite des Flurs geht es in ein kleines Wohnzimmer mit einem geblümten Polstersofa und dazu passenden Sesseln. Auf dem Couchtisch steht ein Schachbrett, und alle Figuren sind in vollkommener Symmetrie aufgestellt. Am liebsten würde sie sich eine von den Pferdegestalten schnappen und sie einstecken, aber sie lässt es. Vielleicht wegen der museumsartigen Ordentlichkeit hat sie hier mehr als anderswo das Gefühl, dass diese Dinge jemandem gehören. Wenn sie das Pferd einfach wegnehmen würde, wäre das Diebstahl.
Die Küche ist aufgeräumt wie alles andere. Keine Zeichen eines Kampfes oder auch nur eines überstürzten Aufbruchs. Nichts in der Eile Vergessenes, keine umgefallenen Stühle, keine Nachrichten, nichts. Nicht einmal Zeichen von Alltagsleben. Keine Kaffeebecher, kein Geschirr im Becken, keine zerknüllten Spüllappen auf der Arbeitsfläche.
Was ist hier eigentlich los?, flüstert sie vor sich hin.
Sie macht den Kühlschrank auf, der schon lange nicht mehr funktioniert, und stößt auf Fächer mit alten, verdorbenen Lebensmitteln, die schwarz verschrumpelt sind und nicht einmal mehr stinken.
Im Speisezimmer sitzt Maury noch immer in der Ecke und dreht die Kristallkugel zwischen seinen dicken Fingern.
Bleib hier, Maury. Ich seh mal oben nach.
Am Ende der teppichbezogenen Treppe hört sie ein Geräusch aus dem Gang – ein leises Zischen wie von fließendem Wasser in einer Leitung.
Hallo?
Ihre Stimme klingt brüchig in der überwältigenden Leere des Hauses. Es ärgert sie, dass sie sich so kläglich anhört, und sie beschließt, lieber den Mund zu halten.
Nacheinander stößt sie die Türen am Gang auf und drückt sich gleich an die Wand, um sich nicht von einem herausspringenden Feind überrumpeln zu lassen.
Bad, Kinderzimmer, Büro, Wäschekammer. Das Gurkhamesser fest in der Hand nähert sie sich dem Raum, aus dem das Zischen kommt. Die Tür ist angelehnt, und wieder bemerkt sie einen Flackerschein, der allerdings blau ist.
Mit dem Griff des Gurkhamessers stößt sie die Tür auf und sieht einen kleinen Hobbyraum mit einer Couch vor einem großen TV-Schrank, der die ganze Wand einnimmt und hundert Türchen und Schubladen hat. Das Geräusch, das sie gehört hat, kommt von einem großen Fernseher. Das Flimmern auf dem Bildschirm wirft ein fahles bläuliches Licht ins Zimmer, und aus den Lautsprechern dringt ein konstantes Rauschen.
Die letzte Ausstrahlung liegt schon viele Jahre zurück – länger als Temples Geburt. Und wenn der Fernseher seit dem Aufbruch der Bewohner eingeschaltet geblieben wäre, müsste die Röhre schon längst durchgebrannt sein.
Sie überlegt, ob es in dem Haus spuken könnte. Normalerweise gibt sie nicht viel auf so was wie Gespenster, aber sie spürt, wie in ihr ein schwarzes Gefühl aufsteigt, das sie nicht identifizieren kann. Noch nie war sie dem Leben vor den Schaben so nah – und zugleich so fern. Ihre Haut spannt sich, und sie möchte den Fernseher ausschalten, hat aber Angst, etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen – als würden die Geisterstimmen der Toten, der echten Toten, sie davor warnen.
Langsam zieht sie sich zurück.
Am Ende des Gangs befindet sich noch ein letzter Raum. Behutsam nähert sie sich und schiebt die Tür nach innen. Das Schlafzimmer.
Eigentlich hat sie die Hoffnung schon aufgegeben, die Duchamps in dem Haus zu finden, aber hier sind sie. Auf der Daunendecke des großen Rüschenbetts liegen nebeneinander in feinem Sonntagsstaat zwei Tote. Nicht auf dem Rücken wie Leichen in einem Sarg. Sondern auf der Seite, mit angezogenen Armen und Beinen, die Frau in die S-Form des Mannes gekuschelt, der sie in einer ewigen Umarmung hält.
Temple tritt ans Ende des Betts. Die zwei sind schon seit vielen Jahren tot. Der Tod zeigt sich vor allem an der Haut. Sie wird papierdünn und trocken, sie schrumpft und spannt sich um die Knochen, bis nur noch eingehüllte Skelette übrig sind. Sie verändert die Farbe – von grau über braun zu schwarz –, bewahrt aber oft die Haarfollikel. Außerdem zerrt sie durch die Straffung um das Gesicht den Kiefer auf und verleiht den Toten einen Ausdruck von wilder Ausgelassenheit.
Zwei hysterisch lachende Puppen in einer staubigen Umarmung.
Die Kleider, die Leichen, die Spinnweben
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