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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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Kreuzung kam eine kleine Ortschaft, und er nahm Gas weg, um sich die übrig gebliebenen Häuser und Läden anzuschauen, die den Highway säumten. Er fragte sich, ob da noch Menschen lebten, irgendwo hinter einer dieser gesichtslosen Fassaden, die aussahen, als würden sie langsam verschwinden, zerbröckeln und im Erdboden versinken. Irgendwie hatte er das Gefühl, jemand würde ihn beobachten. Aber er hatte immer das Gefühl, jemand würde ihn beobachten, wenn er durch diese Geisterstädte fuhr.
    Über allem, so kam es ihm vor, lag eine wunderschöne Einsamkeit, die er nicht näher beschreiben konnte. Er hatte immer wieder versucht, dieses Gefühl zu ignorieren, aber er war es nicht mehr losgeworden. Es war so eine Art nostalgische Wehmut, mit der er sich an die vergangenen Katastrophen und das geschäftige Leben erinnerte, das hier früher geherrscht hatte. Als kleiner Junge war er oftmals mit seinem Vater ausgeritten, und sein Vater hatte ihm die Gebäude und Häuser gezeigt, die er erbaut hatte. Offenbar hatte er die ganze Küste entlang gearbeitet. Gulfport, Biloxi, Ocean Springs, Moss Point. Egal, wo sie hinkamen, egal, welche Straße sie benutzten, sein Vater deutete immer irgendwo hin und sagte: Das hab ich gebaut. Da hab ich mitgemacht. Das hab ich gebaut. Und Cohen bemerkte den stolzen Unterton in der Stimme seines Vaters. Und war selbst stolz auf seinen Vater und seine rauen, kräftigen Hände und was er mit ihnen geschaffen hatte. Sein Vater schien über geradezu magische Kräfte zu verfügen. Tagsüber baute er Wohnhäuser und andere Gebäude entlang der Küste, abends fütterte er die Kühe und entrindete Baumstämme, und nachts saß er in seinem Sessel, genehmigte sich einen Drink oder spazierte draußen herum und sprach mit Cohen wie mit einem kleinen Mann statt wie mit einem kleinen Jungen, und Cohen wollte gern so werden wie er. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass er eines Tages mit seinen eigenen Kindern und Enkeln in der Gegend herumfahren würde. Und er würde aus dem Fenster deuten und sagen: Das da hab ich gebaut. Da drüben hab ich mitgearbeitet. Das da hab ich gebaut. Und er war tatsächlich wie sein Vater gewesen. Er hatte einige Gebäude errichtet. Aber es waren keine Kinder da, denen er sie zeigen konnte. Selbst wenn es sie gäbe, wäre da nichts mehr, das er ihnen zeigen könnte. Er hätte ihnen nur erzählen können, dass es da mal was gegeben hatte. Da hab ich eins gebaut, das verschwunden ist. Da rechts hat auch mal eins gestanden. Immer wenn er aus dem Haus trat und zum Jeep ging, schaute er sich um und sah Betonfundamente, zerborstene Überreste, Schutthaufen. Das waren die Orte, an denen er gearbeitet hatte. Jetzt waren da nur noch Trauer, Verzweiflung und Angst. Er fragte sich, was sein Vater wohl gesagt hätte, wenn er erlebt hätte, wie sein Lebenswerk zerstört wurde. Er fragte sich, wie sich sein Vater wohl fühlen würde, jetzt, wo von seiner Arbeit nichts mehr geblieben war. Alles war einfach verschwunden. Vom Wind und vom Regen beseitigt. Gewaltsam beseitigt. Ohne Unterschied beseitigt.
    Als wäre es nie dagewesen.

2
    Vor 613 Tagen war die »Linie« deklariert worden, eine geografische Grenze, die neunzig Meilen nördlich der Küste von der Grenze von Texas und Louisiana aus in östlicher Richtung über den Mississippi hinweg bis Alabama gezogen worden war. Eine geografische Linie, die nur eins aussagte: Wir geben auf. Die Stürme können das Land haben. Nichts wird mehr aufgebaut, nichts wird repariert. Die Deklaration wurde nach einigen Jahren katastrophaler Hurrikane und eines deutlich wahrnehmbaren Klimawandels erlassen, als klar war, dass auch in Zukunft unaufhörlich neue verheerende Stürme über das Land ziehen würden. Die Linie bedeutete: Wir geben auf. In diesen 613 Tagen waren die Stürme stetig mit gleicher zerstörerischer Heftigkeit hereingebrochen. In den letzten Monaten hatte sich ein Wandel hin zum Schlimmeren angekündigt, was kaum jemand für möglich gehalten hatte.
    Wer dablieb, tat es auf eigenes Risiko. Hier gab es kein Gesetz mehr. Keine Verwaltung. Keine Anlaufstellen für Bedürftige. Keinen Schutz. Den Bewohnern der Region wurde ein Monat Zeit gegeben, um sich darauf einzustellen, dass die Linie gezogen wurde. Eine zwangsweise Räumung wurde angeordnet, und bis zum Stichtag bot man den Wegziehenden Hilfe an. Danach war jeder, der blieb, auf sich selbst gestellt. Die Linie war gezogen, und die Gegend südlich davon wurde als Wildnis

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