Nach der Hölle links (German Edition)
wie er brauchte, doch er wollte sich nicht beschweren. Auf seine neue Hausärztin war Verlass. Sein Therapeut arbeitete gewissenhaft mit ihm und hielt ihn mit einer Mischung aus Motivation, Verständnis und Tritten in den Hintern auf Trab.
Der Leiter des Tierheims, in dem Andreas seit fast einem Jahr als Praktikant und Ehrenamtlicher arbeitete, war ebenfalls zu einer wichtigen Anlaufstelle für ihn geworden.
Mandy war das, was einer Freundin am nächsten kam. Eine liebe Kollegin und eine Frau, die ihrerseits einige Hürden hatte nehmen müssen und insofern als gutes Vorbild diente. Dass sie mit ihrer übergroßen Nase, den deformierten Gesichtszügen und der unförmigen Gestalt keine Schönheit war, störte Andreas nicht. Sie hatte trotz ihrer manchmal ruppigen Art ein gutes Herz. Das war alles, was ihn interessierte.
Es tat Andreas leid, dass er ihr für dieses Wochenende abgesagt hatte. Normalerweise mochte er es, wenn sie zu Besuch kam, aber er war erschöpft und brauchte Zeit für sich allein. Oder zumindest etwas anderes als das, was Mandy ihm geben konnte.
Als der Bus um die Ecke kam, verengte Andreas die Augen und zwang sich zum Aufstehen. Der Magen kletterte ihm in die Speiseröhre, während er die Hand um seine Monatskarte klammerte und einstieg. Automatisch suchte er nach einem isolierten Sitzplatz, doch er hatte kein Glück. Zu viele Passagiere bevölkerten das nach alten Polstern und Döner Kebab riechende Gefährt.
Den Würgereiz hinunter schluckend, lehnte Andreas sich an ein Fenster nahe dem Ausstieg und betete, dass die Fahrt schnell zu Ende ging. Ihm war bewusst, dass diese Gedanken falsch waren und allem widersprachen, was man ihm in den harten Wochen der Verhaltenstherapie eingehämmert hatte. Unterdrücken konnte er sie dennoch nicht.
Andreas’ Therapien waren alle miteinander schmerzhaft, schweißtreibend und noch nicht abgeschlossen. Er zweifelte, dass sie je ein Ende finden würden. In allen Phasen der Behandlung hatte er gelitten und sich gequält. Aber nichts war so schlimm gewesen wie die Wochen in der Christoph-Dornier-Stiftung in Münster, in der man den Griff seiner Erkrankung mit Gewalt aufgebrochen hatte, um ihm die Freiheit zurückzugeben.
Er wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Jetzt war nur wichtig, sich daran zu erinnern, was er gelernt hatte: dass jede Panikattacke früher oder später auf natürlichem Wege ein Ende fand. Dass ihm nichts passieren konnte, egal, was sein Geist behauptete.
Andreas ging in sich und erinnerte sich an all die Regeln, die ihm auferlegt worden waren. Nicht auf die Uhr starren, um die Zeiger auf ihrer Reise zu beobachten. Keine Sicherheitsfaktoren nutzen wie Dinge, an denen man sich festhalten konnte. Sich nicht umsehen, ob er jemanden im Bus kannte, um innerlich Halt an ihm zu suchen. Sich durch nichts – gar nichts – ablenken. Nicht durch Musik, nicht dadurch, dass er den Hamburger Fahrplan auswendig lernte oder sich auf die Häuser konzentrierte, die sie passierten. Nicht innerlich Lieder singen oder in eine bessere Welt träumen. Körperlich und gedanklich im Bus bleiben. Die Angst kommen lassen. Und sie aushalten, wenn sie von ihm Besitz ergriff. Jedes Mal ein Stück Fegefeuer.
Ein Krampf toste durch seinen Körper. Erfasste zuerst den Magen und anschließend in Windeseile den Kopf und damit den Verstand. Jedes Mal dasselbe; manchmal stärker, manchmal erträglicher. Die Symptome fielen hinterrücks über ihn her. Sie kamen immer aus der Richtung, aus der er sie am wenigsten erwartete. Sein eigenes Selbst arbeitete gegen ihn und wollte ihn scheitern sehen.
Der Bus rumpelte über eine Bodenwelle. Andreas’ Hand zuckte empor und umfasste das Gestänge. Sah man ihm an, dass ihm der Schweiß über den Rücken lief, wie sehr er kämpfen musste?
Je länger er mit seiner Krankheit zu tun hatte, desto mehr missfiel ihm die Vorstellung, bei seinem Martyrium beobachtet zu werden. Er führte Krieg gegen sich selbst. Da konnte er auf dumme Sprüche oder abschätzige Blicke verzichten. Es war schlimm genug, dass sein Geist im Hintergrund tausendundeine Todesart ersann. Ein Szenario jagte das nächste. Einige lagen im Bereich des Möglichen – Unfälle, geplatzte Reifen, ein eingeschlafener Fahrer –, andere hatten mehr mit Hollywood als mit der Realität zu tun.
Allen Vorstellungen war gemein, dass sie Andreas Angst machten. Er fürchtete nicht, verletzt zu werden oder in eine unangenehme Situation zu geraten. Er fürchtete zu
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