Nach dir die Sintflut
versuchte, an etwas anderes zu denken, aber es gelang ihr nicht.
»Warum dürfen wir nicht zu ihr?«
»Weil sie müde ist. Wir sehen sie morgen«, sagte Rebecca.
Um sechs Uhr durften Lisa und Rebecca zurück ins Haus. Das Abendessen stand in der Mikrowelle. Ihr Vater telefonierte. Rebecca schaltete den Fernseher ein und suchte die Lieblingssendung ihrer Schwester. Sie drehte den Ton lauter auf als je zuvor. Als ihr Vater sie nicht aufforderte, das Gerät leiser zu stellen, zog Rebecca ihre Schuhe aus und schlich durch die Küche. Auf Zehenspitzen stieg sie die Treppe hoch. Außer Atem kam sie oben an. Sie stellte sich vor das Gästezimmer. Die Tür war alt und schloss nicht richtig. Rebecca spähte durch die Ritze. Ihre Mutter lag auf der Seite und schaute in die andere Richtung. Rebecca stieß mit dem Zeigefinger gegen die Tür, bis sie halb geöffnet war, und dann schlich sie hinein, so leise sie konnte.
Die Jalousien waren heruntergelassen, so dass das Zimmer fast im Dunkeln lag; nur ein paar spätnachmittägliche Sonnenstrahlen drangen durch den Spalt zwischen Jalousie und Fensterbrett. Rebeccas Mutter schlief weiter. Die Bettdecke war verrutscht. Die Mutter trug ein Krankenhausnachthemd, das auf dem Rücken zugebunden wurde. Ihre Haut war weiß, ihr Haar zu lang. Rebecca ging ums Bett herum, ohne ihre Mutter anzufassen.
»Ist schon gut, Schätzchen«, sagte ihre Mutter da. Mit geschlossenen Augen hatte sie die Beklemmung ihrer Tochter gespürt. »Ich bin nicht weit weg. Ich bin hier.«
Rebecca berührte den Arm ihrer Mutter. Die Haut war feucht und kalt. Die Mutter drehte sich auf den Rücken, und Rebecca wurde klar, dass sie nicht bleiben durfte. Nichts in dem Zimmer stimmte mehr; das Licht aus dem Jalousienspalt, die Farbe des Flügelhemds, der Geruch der Medikamente auf dem Nachttisch - alles war falsch. Rebecca wusste, sie musste das Zimmer verlassen, aber sie wollte etwas mitnehmen. Einen Gegenstand, an dem sie sich festhalten konnte, der beweisen würde, dass ihre Mutter tatsächlich nach Hause gekommen war. Die Pillendosen konnte sie schlecht mitnehmen, das würde auffallen. Rebecca sah sich im Zimmer um, konnte aber nur wenige Objekte entdecken, die nicht schon vor der Ankunft ihrer Mutter hier gewesen waren. Dann sah sie das Plastikarmband, das ihre Mutter im Krankenhaus getragen hatte.
Das Armband war durchgeschnitten und lag auf dem Nachttisch. Der Name ihrer Mutter war klar und deutlich in lila Druckschrift zu lesen. Rebecca griff zu, und als ihre Faust sich schloss, hatte sie eine seltsame Empfindung. Das Gefühl ähnelte einem Stromschlag, es kam aus ihrer Brust und schoss durch ihren Arm und ihre Fingerspitzen in das zerschnittene Plastikband. Rebecca fühlte sich, als müsste sie pinkeln, dann war es
vorbei. Sie öffnete die Faust und betrachtete das Armband, aber es war unverändert. Rebecca verließ das Zimmer, das Armband in der Hand, und zog die Tür hinter sich zu, so gut es ging.
Sie stützte einen Großteil ihres Körpergewichts auf das Geländer, um die Treppe möglichst geräuschlos hinunterzuschleichen, aber auf dem zweiten Treppenabsatz begegnete sie ihrem Vater. Sie ballte die Hand zur Faust, um das Plastikband vor ihm zu verbergen. Ihr Vater schaute über ihren Kopf hinweg zur Gästezimmertür und dann wieder in Rebeccas Gesicht.
»Hast du sie gesehen?«
»Ja.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte Rebecca. Es war gelogen. Es hatte sie zutiefst verstört, ihre Mutter so schwach, müde und hilflos zu sehen. Während dieses Gefühl sie durchströmte, wartete sie auf eine Reaktion ihres Vaters, aber nichts passierte. Er lächelte sie bloß an.
»Das ist schön. Wir hätten dich schon viel früher zu ihr lassen sollen. Es tut mir leid.« Er umarmte sie, dann drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Sobald ihr Vater außer Sichtweite war, öffnete Rebecca die Faust und starrte auf das Plastikband.
Während der folgenden sechs Wochen, die Mutter war bettlägerig, trug Rebecca das Plastikband ständig bei sich. Sie hielt es beim Schlafen in der Hand. Sie hatte es in der rechten Vordertasche dabei, egal, welche Hose sie gerade trug. Sie vergaß kein einziges Mal, es einzustecken. Wenn irgendjemand sie fragte, wie es ihr gehe, konnte Rebecca einfach »gut« sagen, und man glaubte ihr. Endlich hatte Rebecca Reynolds die Fähigkeit zu lügen.
Sieben Wochen später kam Rebecca von der Schule nach Hause und entdeckte ihre Mutter im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sie trug
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