Nach dir die Sintflut
Oberfläche dahin, dann streckte sie eine Hand aus dem
Wasser. Sie fühlte keinen Regen auf ihrer Haut. Sie öffnete die Augen, strampelte kurz mit den Füßen und steckte den Kopf aus dem Wasser. Es regnete nicht mehr. Aby sah keinen Blitz und hörte keinen Donner. Sie schaute in den Himmel und entdeckte eine schrumpfende Wolke. Sie beobachtete, wie sie kleiner und kleiner wurde.
»Ich soll verdammt sein«, sagte Aby, obwohl sie zum ersten Mal in ihrem Leben sicher war, es nicht zu sein. Sie tauchte ab und schwamm los, ohne zu wissen, wohin.
Siebenundfünfzig
Ein Segelboot auf der Kreuzung Portage und Main
Weil der Wind das Segelboot mit knapp vierzig Knoten antrieb, erreichten Stewart und die Regenmacher Winnipeg in weniger als zwei Stunden. Das Wasser stieg weiterhin. Sie fuhren auf dem Red River in die Stadt und kreuzten dann durch die Straßen, als seien es Nebenflüsse.
Stewart saß am Ruder, als sie zwischen Bürotürmen hindurch auf die Kreuzung von Portage und Main Street segelten. Anderson und Kenneth beugten sich abwechselnd über die Reling, um Überlebende an Bord zu ziehen. Sie retteten Leute von Laternenpfählen und provisorischen Flößen aus Türen und Treibgut. Manche der Überlebenden sprangen von Hausdächern, um zum Boot zu schwimmen. Es waren schon über vierzig Personen an Bord, als Anderson einen strampelnden Mann im Wasser entdeckte. Er war völlig erschöpft und bedankte sich überschwänglich, sobald man ihn an Bord gezogen hatte. Erst nach einer Weile arbeitete er sich zum Heck durch und erkannte den Mann am Ruder.
»Stewart?«, fragte Lewis mit ungläubiger Miene.
»Lewis?«, fragte Stewart zurück. Er wollte sagen, wie leid es ihm wegen Lisa tat. Er wollte sich über diese unheimliche Begegnung wundern. Aber er wusste, dafür hatten sie jetzt keine Zeit. »Später. Wir reden später darüber«, sagte er. »Geh jetzt runter in die Kajüte und hilf beim Schöpfen.«
Lewis gehorchte. Er reihte sich in die Menschenschlange
ein, die die Eimer hin- und herwandern ließ. Obwohl sie in rasendem Takt schöpfen mussten, ging das Boot nicht unter. Sie zogen mehr Menschen aus dem Wasser, bis an Deck kein Platz mehr war, und selbst dann hörten sie nicht auf. Stewart wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sein Handy zu klingeln anfing. Er wäre nicht rangegangen, hätte er nicht Rebeccas Nummer erkannt.
Achtundfünfzig
Nur ja nichts unterdrücken
Rebecca strich sich den nassen Pony aus dem Gesicht, seufzte, wartete auf einen Moment, in dem sich ihre Hand wieder fester anfühlte, und wählte dann Stewarts Nummer. Es klingelte.
»Stewart?«, sagte sie. Sie wusste nicht, wo er war, aber er schien mitten in einer größeren, glücklichen Menschenmenge zu stehen.
»Rebecca! Hallo. Es regnet nicht mehr. Der Regen hat aufgehört!«
»Ich wollte bloß. Ich wollte dich bloß fragen …«
»Sprich lauter! Ich kann dich kaum verstehen.«
»Es fällt mir nicht leicht.«
»Dann muss es wichtig sein. Sag es einfach, Rebecca. Sprich es laut aus.«
»Ich möchte, dass du nach Hause kommst«, sagte sie. Stewart antwortete nicht sofort, stattdessen hörte sie die Menschenmenge jubeln.
»Bald«, sagte Stewart. »Ich komme ganz bald.«
Das Handy fühlte sich nicht mehr weich an. Vor ihr stand ein Mann mit einem roten Regenschirm, der seinen Hund spazieren führte. Er fühlte Rebeccas Freude, drehte sich um und starrte sie an, aber es war ihr egal. Es war ihr egal, dass die Teenager am anderen Ende des Parks fühlten, was sie fühlte. Oder die Leute in den vorbeifahrenden Autos. Oder diejenigen, die drei Häuserblocks entfernt zu Hause im Wohnzimmer saßen. Es
machte ihr nichts aus, dass alle und jeder fühlen konnten, was in ihr vorging, und sie wusste, dass es ihr nie wieder etwas ausmachen würde.
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel The Waterproof Bible bei Random House Kanada, Toronto.
1. Auflage
Copyright © 2009 by Andrew Kaufman
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Luchterhand Literaturverlag, München,
ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-04786-3
www.luchterhand-literaturverlag.de
www.randomhouse.de
Weitere Kostenlose Bücher