Nach dir die Sintflut
draußen, bis er auf Zehenspitzen stand und das Fensterbrett kurz unter seinem Bauchnabel spürte. Lewis ließ sich den Regen auf Rücken, Nacken und Kopf prasseln. Er drehte sich um, damit der Regen ihm auf Brust und Gesicht schlagen konnte, und er wurde überwältigt von dem Gedanken, dass seine Haut als Begrenzung bedeutungslos
geworden war. Dass alles darin - Herz, Knochen, Kummer - nicht mehr von der Außenwelt zu trennen war. Es gab kein Innen und kein Außen. Es gab keine Teile. Es gab nur alles, und bislang hatte er dazu nichts beigetragen als Selbstmitleid, ein aufgeblasenes Ego und einen - zugegebenermaßen sehr eingängigen - Popsong.
Als Lewis seinen Kopf wieder hereingezogen hatte, wusste er genau, was zu tun war. Aber zunächst schloss er das Fenster. Er fühlte den nassen Teppich zwischen seinen Zehen, streckte die Arme aus und lief mit sicheren Schritten ins Badezimmer. Er zog Kleider an, die hoffentlich passend und sauber waren. Er fuhr sich mit den Fingern durchs nasse Haar und strich es glatt. Obwohl er nicht wusste, ob er vorzeigbar war, hangelte er sich an der Wand bis ins Wohnzimmer. Er warf das Telefon beim ersten Versuch zu Boden, schaffte es aber beim zweiten, den mittleren Knopf in der untersten Reihe zu drücken. Er zählte bis fünfzehn und bestellte ein Taxi und einen Helfer.
Fünfzig
Margarets letzter Wunsch
Aby löste Margarets Anschnallgurt, schöpfte Wasser mit der Hand und wusch den Rost aus dem Gesicht der Mutter. Sie nahm Margaret über die Schulter und watete in Richtung des Prairie Embassy Hotels los. Je näher sie kam, desto höher stieg das Wasser. Am Ende der Einfahrt reichte ihr das Wasser bis an die Brust. Die Eingangstür stand offen, und in der Lobby musste Aby schwimmen, ihre Mutter fest in den Armen. Ein Beistelltisch trieb im rechten Winkel vorbei. Bücher und Dokumente dümpelten auf dem Wasser. Aby trug ihre Mutter über die Treppe in den zweiten Stock hinauf.
Die Tür von Zimmer 201 stand offen. Aby legte ihre Mutter aufs Bett. Margaret atmete flach. Sie hustete den Rost durch die Kiemen aus. Aby verließ das Zimmer, warf einen Blick über das Geländer und sah, wie schnell das Wasser an den Wänden hochstieg. Sie ging ins Zimmer zurück. Hinter dem nach Osten gelegenen Fenster war nichts zu sehen als Wasser und Baumwipfel.
Als sie hörte, dass Margaret sich rührte, ging Aby ans Bett zurück. Margaret öffnete die Augen. Sie hustete, und Rost quoll aus ihren Kiemen.
»Ich will einen trockenen Tod«, sagte Margaret.
»Nein, Mom. Versuch einfach, still zu sein.«
»Aby, glaubst du ans Trú ?«
»Ich bin hier diejenige, die dich davon überzeugen sollte.«
»In meinem Herzen weiß ich, ich folge dem Trú .«
»Ich weiß, dass du das glaubst.«
»Dann ist es einfach, Aby. Entweder irrst du dich in mir oder ich irre mich in meinem Trú .«
Margarets Augen schlossen sich wieder. Aby überprüfte ihren Puls. Er war schwach. Unter der Tür von Zimmer 201 kam Wasser herein.
»Es tut mir so leid«, sagte Aby, hob ihre Mutter aus dem Bett und legte sie auf den Boden. Das Wasser quoll unter der Tür durch, und Rinnsale schnörkelten sich um Margarets Kopf. Das Wasser stieg stetig, hob Margarets Haare an, überspülte ihr Gesicht und ihre Augen. Aby schaute zu, wie Margarets Kiemen sich öffneten und sie Wasser einatmete.
Einundfünfzig
Gottes Publikum
Lewis saß mit gefalteten Händen auf der Sofalehne im Wohnzimmer und wartete. Seine Haare waren immer noch nass. Es war scheinbar wenig Zeit vergangen, bis er ein sanftes Zupfen an seinem Ellenbogen spürte. »Danke«, sagte Lewis und stand auf. Die Hand auf seinem Arm fühlte sich groß und stark an. Das konnte weder Beth noch Lisa sein.
Die Hand führte ihn aus der Suite, in den Aufzug und aus dem Hotel hinaus. Lewis spürte den Wind in seinem Gesicht. Der Wind blies stark, aber Lewis musste sich unter einem Schirm befinden, denn er bekam nur gelegentlich einen Regentropfen ab. Er ließ sich eine Treppe hinuntergeleiten, an deren Fuß eine andere Hand seinen freien Ellenbogen packte.
»Danke«, sagte Lewis in Richtung der ersten Hand.
Er ließ sich von der neuen Hand zu einem Auto führen, das er für ein Taxi hielt.
»Bitte fahren Sie mich zu einem Kino«, sagte er. »Zum nächstgelegenen.«
Das Taxi fuhr an. Sie bogen mal nach links, mal nach rechts ab. Lewis konnte den letzten Hauch einer längst gerauchten Zigarette riechen. Plötzlich hatte er das Gefühl, sich unendlich weit vom Hotel entfernt zu
Weitere Kostenlose Bücher