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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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intellektuelle Weise für Zeitverschwendung erklärte.
    Dabei sagte Wilbur selten, die Filme seien schlecht. Er konnte nur nichts anfangen mit Drachenjägern und Weltraumrittern, mit singendenKatzen, tanzenden Matrosen und fliegenden Torten. Er fühlte nicht den Liebeskummer des wortkargen Amerikaners in Marokko oder den Trennungsschmerz der Südstaatenschönheit, es kümmerte ihn wenig, ob Herzen gebrochen oder Galaxien zerstört wurden, und bei den Komödien wusste er nie recht, wo man ihn zum Lachen bringen wollte und wo die Geschichte Mitleid mit den Figuren verlangte.
    Als das Angebot der Filme für Jugendliche unter sechzehn erschöpft war, fragte Wilbur, ob er sich einen Kriegsfilm ansehen dürfe, und Ari erlaubte es ihm. Wilbur war seit Tagen sein einziger Kunde, und er wusste, dass dem Jungen ein Film wie Die Kanonen von Navarone kaum bleibende seelische Schäden zufügen würde.
    Danach sah Wilbur sich alle Kriegsfilme aus Aris umfangreicher Sammlung an, und als es davon keine mehr gab, holte Ari ein paar Krimis aus einer Kiste unter der Treppe hervor, französische Schwarzweißwerke mit Jean Gabin und Lino Ventura, später dann amerikanische Streifen mit James Cagney, Edward G. Robinson und Humphrey Bogart. Wochen später war auch dieser Vorrat erschöpft, und Ari zögerte, den Jungen mit noch mehr Barbarei zu füttern. Wann immer er sich mit Wilbur bei einer Tasse Tee unterhielt, hörte er genau hin, und auch nach zahllosen Filmen, die der Staat mit allen rechtlichen Mitteln von Jugendlichen fernzuhalten versuchte, konnte er bei dem Jungen keine Veränderungen feststellen, die auf eine Verrohung des Charakters deuteten. Er hatte als Kindergärtner heimlich Horror- und Vampirfilme verschlungen und sah keinen Grund, weshalb er seinem vierzehnjährigen Kunden Filme wie Dirty Harry , The French Connection oder Taxi Driver vorenthalten sollte.
    Tatsächlich fühlte Wilbur sich bereit. Nur noch vage erinnerte er sich an die Zeit, als er neben Orla im Kino saß und mit den Leinwandhelden fieberte und von Gewehrkugeln, Indianerpfeilen und Laserstrahlen durchlöchert wurde, bis das Tageslicht seine Wunden und heimliche Angst verschwinden ließ und er an der Hand seiner Großmutter in die Wirklichkeit trat. Schon früh hatte er gelernt, Filme als flimmernde Märchenbücher zu sehen, als kolossale Gutenachtgeschichten, die dazu da waren, ihn von der Realität und der Dunkelheit abzulenken. Irgendwann hatte er die mit Blut und Tränen geschmierte Mechanik dieserBilderreigen durchschaut und ließ sich von ihnen nur noch unterhalten, nicht mehr täuschen. Er hatte es geliebt, Orlas Hand in seiner zu spüren, den Geschmack der Bonbons auf der Zunge und die verlässliche Helligkeit nach der Vorstellung, aber diese Zeit war lange vorbei.
    Das einzige, was ihn jetzt noch erreichte, war schiere Gewalt. Männer, deren Leben schreckliche Wendungen nahmen, die in ausweglose Situationen gerieten und zornig oder skrupellos genug waren, um sich ihren Weg freizuschießen. Diese tragischen, brutalen und verzweifelten Gestalten waren es, die ihn berührten und aufwühlten und ihm für die Dauer eines Films vormachten, wie man seine Existenz veränderte, auch wenn man sie dabei vernichtete.
     
    Der Nachschub aus dem Kassettenlager schien unerschöpflich. Jedes Mal wenn Wilbur den Laden betrat, hatte Ari einen neuen Film für ihn. Es machte ihm Spaß, für den kleinen Kenner Reihen zusammenzustel len, ihn mit den Arbeiten eines Regisseurs vertraut zu machen und ihm in chronologischer Folge sämtliche Werke mit Clint Eastwood, Charles Bronson oder Robert De Niro vorzuführen. Oft setzte er sich mit dem Jungen und einer Tasse Tee hin und hielt eine leidenschaftliche Einführung in den Film, mit dem er Wilbur gleich beglücken würde, las aus Fachzeitschriften und Büchern vor, öffnete Sammelordner voller Standbilder, Werbezettel und Autogrammkarten in Klarsichtmappen und entrollte Originalplakate, die nach vergangener, unwirklicher Zeit rochen.
    Ari’s Mega Video Store war Wilburs Zweitwelt, ein Paralleluniversum, durch das er in seiner Kapsel aus Phantasie und Verzweiflung glitt, geblendet von Zelluloidgewittern und betäubt vom Donnerhall ferner Explosionen. In dieser Galaxie aus Gesetzlosigkeit und niedrigster Gesinnung zerstieb sein trotz aller Schrecken behütetes Leben zu einer nebligen Erinnerung, und alles, was ihm widerfahren war, trat für eine Weile zurück, und was noch auf ihn lauern mochte, verlor an

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