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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Buch vor, das die Freundschaft zwischen einem Pygmäen und einem Elefanten erzählte. Er hatte sichvon Anfang an einen Spaß daraus gemacht, den Pygmäen Wilbur und den Elefanten Colm zu nennen, und Colm kicherte noch immer jedes Mal darüber. Der Regen kam nicht, aber sie blieben bis zum Abend alleine im Garten. Das Licht hob die Hügel aus dem Land, glitt an ihren Rücken ins Verborgene und verging. Colm sah in den Himmel, wo die Wolken zeichneten, was Wilbur erzählte. In der Dämmerung war es kühl geworden, doch er fror nicht.
     
    Es gab Tage, an denen Wilbur aufwachte und sich verloren fühlte. Er lag in seinem Bett und starrte an die Innenseite seiner Lider, auf der Blitze zerstoben. Aus der Küche stieg der Geruch von Kaffee und Toastbrot hoch, und er begrub das Gesicht unter dem Kissen. Wurde sein Name gerufen, kam er ihm fremd vor. Er saß mit Pauline und Henry am Frühstückstisch, aber er war nicht bei ihnen. Er ließ sich vom Bus zur Schule fahren und hörte den Lehrern zu, ohne sie zu verstehen. An diesen Tagen ging er nicht zu Matthew, weil er die warmen Töne des Cellos und die tiefe, zärtliche Stimme des alten Mannes nicht ertragen hätte. Colm musste ohne ihn auskommen, denn Wilbur fehlte die Gelassenheit, aus Büchern zu lesen oder die fetten Goldfische zu füttern.
    In dieser Stimmung ging Wilbur allem aus dem Weg, er vergrub die Fäuste in den Taschen und trat gegen Abfalleimer und Blumentöpfe. Wer ihn grüßte, bekam einen finsteren Blick zur Antwort und fragte sich, ob das wirklich der Junge mit dem Cello sei. An solchen Tagen war Wilbur traurig, einsam und hoffnungslos, aber vor allen Dingen war er wütend.
    Der einzige Ort, an dem Wilbur diesen Gemütszustand ertrug, ohne Dinge zu beschädigen oder Leute zu beleidigen, war ein Laden in Portsalon, der sich Ari’s Mega Video Store nannte. Entgegen seinem pompösen Namen, der auch tagsüber aus einem summenden, mit farbigen Glühbirnen gefüllten Blechkasten über dem Eingang blinkte, war der Laden winzig. Sein Besitzer, ein Finne, der seit zwanzig Jahren mit der einzigen Tochter des ranghöchsten Polizisten im Ort verheiratet war, spielte den ganzen Tag mit seinen Kindern in der Wohnung über dem Laden und kam nur herunter, wenn ein Kunde die Türglocke zum Läuten brachte. Ari Tikkanen war einen Meter dreiundneunzig groß,hatte lange rotblonde Haare und einen wuchernden Bart. Seine Stimme war laut und tief, und wenn er lachte, bekamen es manche Leute mit der Angst zu tun.
    Obwohl das Geschäft immer schlechter lief, war er stets bester Laune, bot den wenigen Kunden eine Tasse Tee an, empfahl ihnen cineastische Leckerbissen und verdiente ein bisschen Geld mit Schund und Kitsch. Er schwärmte polternd von russischen und japanischen Regisseuren, deren Namen kein Mensch in Portsalon auch nur aussprechen konnte, und wenn er in Fahrt war, erzählte er ganze Filminhalte auf Finnisch.
    »Ach, der Verehrer von Tod und Zerstörung!« begrüßte er Wilbur jeweils fröhlich, schwenkte Kassettenhüllen, auf deren Einbänden farbige Explosionen blühten, und rief die Werbetexte wie ein mittelalterlicher Moritatensänger in die Leere des mit Plakaten und Szenenfotos tapezierten Raumes, Orgien aus Gewalt versprechend. Dann führte er seinen Kunden in eine der drei schrankgroßen und mit schwarz gestrichenen Eierkartons isolierten Kabinen und schob die Kassette in den Rekorder. »Und du bist sicher, dass du in Blut waten willst, statt in den Traumfeldern kirgisischer Avantgardisten zu wandeln?« fragte er grinsend und wissend, dass Wilbur wie immer ernst nicken würde, drückte die Starttaste und schloss die Tür hinter sich.
    In diesen engen Kammern war es, wo Wilbur die dunklen Seiten seiner Seele ausleuchtete. Er hatte es mit Kinderfilmen und Komödien versucht, mit Familiendramen und Science Fiction. Ari hatte ihm koreanische Meisterwerke aufgenötigt und sein Herz mit Kubrick und Kurosawa gewinnen wollen. Eine Weile sah Wilbur sich nur Dokumentarfilme an, dann arbeitete er sich systematisch durch die Fantasy-Regale. Alles ließ ihn kalt und langweilte ihn, weil es entweder zu nah an der Realität war oder zu weit von ihr entfernt. Für Ari wurde Wilbur im Laufe der Zeit vom scheinbar abgestumpften Kind, das ihm sein Taschengeld brachte, zum Patienten, den es mit Hilfe der Filmkunst zu kurieren galt. Er sah, dass Wilbur das ihm Gebotene nicht einfach oberflächlich verurteilte, sondern die Filme auf sachliche und angesichts seines Alters erstaunlich

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