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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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wollte nicht mehr sterben. Irgendwo hinter ihm saß Matthew in einem Auto, das nicht himmelblau war, und wartete auf ihn.
    »Orla«, flüsterte Wilbur, dann ging er auf das Haus zu, langsam und ohne den Boden unter sich zu spüren.
     
    Die Farbe des Verputzes kam ihm unbestimmt vor, irgendwo zwischen weiß und grau, das Rot der Tür in der Mauer dumpf und abweisend, aber vielleicht lag das am Licht, das aus einem bedeckten Himmel fallend kaum den Boden erreichte. Er ging zur Tür und sah, dass große Stücke des Anstrichs abblätterten. Placken roter Farbe lagen im Gras, zerfielen zwischen seinen Fingern. Die Tür war verschlossen, und so ging er zur Vorderseite des Hauses, wo in einer Ecke hergewehte Blätter lagen, trockenes Gras, Papier und Käfer, deren zerbrochene Panzer er zuerst für Scherben aus schwarzem Glas hielt. Sand und Erde bedeckten die Steinplatten, auf den Fenstersimsen lag Staub. Wilbur nahm den Schlüssel hervor, der in seiner Hand glühte. Er zitterte. Als er ruhiger atmete, konnte er das Meer hören. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, sperrte die Tür auf und betrat das Haus.
     
    Die Stille in den Zimmern war anders als die, die er in Colms Haus erlebt hatte. Diese Stille war etwas, das die Räume ausfüllte, sie war eine Masse, ein Geräusch. Sie hatte ein Gewicht, war schwer und lag auf den Dingen. Er konnte sich in ihr nur langsam bewegen, sie bot Widerstand und erschwerte das Atmen. Er erkannte nichts mehr, sah Gegenstände zum ersten Mal und ahnte, dass sie ihm einst vertraut waren. In der Küche öffnete er das Fenster. Er setzte sich an den Tisch und schloss die Augen, atmete langsam.
    Nach einer Weile stand er auf und ging in das Zimmer, das seines gewesen war, aber er ertrug die Leere nicht lange und geriet ins Wohnzimmer, das ihm schon fremd gewesen war, als er noch hier lebte. Ein Sofa, zwei Sessel und ein Tisch füllten den Raum, in einem Regal standen ein paar Bücher, Vasen und Porzellanfiguren. Ölbilder zeigten die Landschaft, die vor den Fenstern lag, über einer Kommode hing ein Fotokalender. SEPTEMBER stand unter der Farbaufnahme einer von Wolkenschatten fleckigen Ebene, durch die ein weißes Pferd galoppierte.
    Dann stand er plötzlich im Schlafzimmer, die Tür musste offen gewesen sein. Das war der Raum, in dem sein Großvater gehaust hatte, bis man ihn ins Heim gebracht hatte. Wilbur konnte sich nicht erinnern, jemals hier drin gewesen zu sein. Das Bett erschien ihm riesig, die Decke darauf wie ein Haufen Schnee, der in der Kälte des Raumesnicht schmolz. Die Türen des Schrankes standen offen, an einer Stange hingen leere Kleiderbügel und eine Hülle aus durchsichtigem Plastik. Ein Hemd und mehrere Socken lagen in den Regalen, ganz unten ein Paar Schuhe aus braunem Leder und eine Bibel. Auf dem Brett über dem Kopfende des Bettes hatte die Urne mit der Asche seiner Mutter gestanden, ein Kreis im Staub erinnerte an die Stelle. Die Urne lag auf Orlas Bauch, von beiden Händen beschützt, wie Orla es sich gewünscht hatte.
    Wilbur ging ins Badezimmer, wo er im Halbdunkel sein Gesicht im Spiegel sah und sich abwandte. Über der Heizung hing ein weißes Handtuch, schmutzig, eine Seife lag auf dem Waschbecken. Die Glasregale waren leer, Ringe zeigten, wo Flaschen und Töpfe gestanden hatten. Eine Rasierklinge klebte auf dem Rand der Badewanne, beim Anblick der grauen Haare im Abfluss wurde Wilbur übel. Er rannte in die Küche, öffnete die Tür zum Innenhof und stolperte hinaus. Die Helligkeit blendete ihn, obwohl sie zu schwach war, um den Dingen einen Schatten zu geben. Der Holztisch, an dem er mit Orla gesessen hatte, stand schief da, die Fläche war zerfurcht und von einer silbernen Patina überzogen. Die Metallgelenke der Stühle waren rostig, die Bretter des Kräutergartens, der einmal der Sandkasten gewesen war, verrotteten.
    Wilbur setzte sich auf den Boden und weinte. Er kippte nach hinten. Auf dem Rücken liegend, schrie er erschöpft, erstickt, das Elend seines Lebens kehrte in ihn zurück. Die Erde drehte sich langsam unter dem Himmel weg, das Licht fiel wie Nebel und füllte das Viereck, in dem Wilbur lag. Er rollte sich zur Seite und schluchzte, er flüsterte ihren Namen, er betete, er bettelte, er schloss die Augen und öffnete sie und sah, dass sie nicht da war, nicht kommen würde, nie mehr.
    Der Boden war ausgekühlt. Er stand auf und trat gegen die Tür, aber das Glas zersprang nicht. Er sah sich darin und schlug mit den Fäusten darauf ein, dann ging

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