Nach Hause schwimmen
Bedrohlichkeit.
Eines Tages saß Wilbur in seiner dunklen, schallgedämpften Box und sah endlich Die Hard von Anfang an und ohne Werbeunterbrechungen, und er ließ es geschehen, dass er den Fernseher vergaß und die Eierkartons und die spielenden Kinder über seinem Kopf, dass die Stunden mitMatthew, die Besuche bei Colm und die für immer in ihm aufgehobenen Jahre mit Orla neben einem gewaltigen Feuerschein verblassten und er sich in John McClane verwandelte, der in einem flammenden Hochhaus barfuß über Scherben ging und Leute erschoss.
Es wurde Herbst, bis Wilbur bereit war, zum Haus zu gehen. Er saß auf dem Sofa in Matthew Fitzgeralds Wohnzimmer und spielte ihm etwas vor, das er komponiert hatte. Nach dem letzten Ton fragte er Matthew, ob sie zusammen nach Fanad Head fahren könnten. Matthew hatte einen 61er Triumph Herald , den Agnes ihm geschenkt hatte, als ihre Augen und Nerven zu schwach für den Verkehr in Norwich geworden waren. Das Auto, das Matthew mehr als Erinnerungsstück denn als Fortbewegungsmittel nach Irland mitgenommen hatte, stand etwa fünfhundert Meter weit vom Haus entfernt in einer Scheune, die ihm ein Nachbar als Garage vermietete. Weil Matthew sein Heim kaum verließ und sich Lebensmittel, Briketts und sogar Bücher liefern ließ, stand der Wagen die meiste Zeit des Jahres unter einer Plane zwischen vermoderten Heuballen und Traktorteilen.
Matthew wusste von dem Haus an der Küste und fragte nicht nach Wilburs Gründen, warum er gerade heute dorthin fahren wollte. Das Wetter war gut, seit zwei Tagen hatte es nicht geregnet, und es sah aus, als würde es noch eine Weile so bleiben. Er zog seine klobigen Lederschuhe an, einen Pullover und den leichten Mantel und setzte den Hut auf, den er damals, kaum aus dem Bauch der Fähre gerollt und von Irland mit heftigem Regen empfangen, in einem Souvenirladen außerhalb von Rosslare gekauft hatte.
Der Triumph sprang nach einigen Versuchen an und füllte den Schuppen mit blauschwarzen Abgaswolken. Der Rückwärtsgang knirschte und der erste schleifte, dann rumpelte das caramelfarbene Gefährt über den Feldweg und hörte erst auf der Landstraße auf zu husten und spucken. Matthew fragte, ob er das Radio anmachen solle, aber Wilbur war es lieber, wenn es ausblieb. Autos mit wehenden Fahnen kamen ihnen entgegen, einige Fahrer hupten. Matthew fragte, wer wohl wen worin besiegt hatte, aber natürlich wusste Wilbur es auch nicht. Krähen saßen ruhig in den seit Wochen kahlen Bäumen und warteten darauf, dass einKaninchen oder eine Katze vor ein Auto lief. Auf einem Feld brannten abgeholzte Bäume, der Rauch wuchs in der Windstille als gerade Säule in den Himmel. Kinder rannten um das Feuer, ihr Indianergeschrei drang durch den Lärm des Motors.
Als sie in der Nähe des Hauses hielten, schaltete Matthew die Zündung aus. Er löste den Sicherheitsgurt, blieb aber sitzen. Der Wagen knackte und knisterte. Eine Weile sahen sie auf das abgeerntete Feld, das vor ihnen lag. Am Horizont lagen ein paar Wolken auf den Hügeln. Matthew nahm die Brille ab, wischte mit den Gläsern über den Pullover und setzte sie wieder auf. Wilbur starrte auf die eigenen Hände, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen.
»Geh nur«, sagte Matthew schließlich und nickte Wilbur zu.
Wilbur zögerte, dann stieg er aus. Er sah den Hof von Colm, winzig stand er zwischen den Wiesen, wie eingesunken ins unbewirtschaftete Land. Vom Meer wehte ein leichter Wind und trug den Geruch von Tang herüber. Keine einzige Möwe flog, kein Schiff unterbrach die Linie des Horizonts. Als Wilbur den Weg hinunterging, wünschte er sich, er hätte Matthew gebeten mitzukommen. Er hielt den Schlüssel in der Hosentasche mit der Faust umklammert, wie er früher den Indianer auf dem Pferd umklammert hatte.
Als das Haus vor ihm auftauchte, blieb er stehen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Sein Atem ging wie an dem Tag, als Colm ihm sagte, Orla würde nicht kommen, um ihn abzuholen. Der Schlüssel schnitt ins Fleisch, und er drückte noch heftiger. Es schien ihm, als stünde er ewig da, unfähig, sich zu rühren. Jahre vergingen. Das Gras auf dem Erdhügel war hoch, der schmale Pfad zugewachsen. Für einen Augenblick sah er sich neben Conor sitzen. Alaska. Kapstadt. Madagaskar. Aus dem offenen Küchenfenster drang leise Radiomusik. Schiffe fuhren, Flugzeuge blitzten auf. Er stand am Rand der Welt, am Ende seines früheren Lebens. Er fühlte sich alt, alt genug, um zu sterben, aber er
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