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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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die Hose hing. Er hatte einen runden Kopf und große Hände und war nieim Leben Lennard Arne Sandberg. Die junge Frau und er wechselten ein paar Sätze, dann verabschiedete sich Wilburs Führerin und ging die lange Baustelle entlang zurück zur Post. Der Mann sah Wilbur mit einer Mischung aus Verwunderung, Skepsis und Freude an, wie jemand, der vor seiner Haustür eine mit einer Geschenkschleife verzierte skurrile Skulptur findet. Er trat zur Seite, machte eine ausholende Armbewegung ins Dunkel des Flurs und bat Wilbur in beinahe akzentfreiem Englisch herein. Wilbur zögerte, doch dann folgte er dem Mann ins Haus und zuckte nicht einmal zusammen, als sich hinter ihm die Tür schloss.
     
    Sune Nordahl war mit Lennard Sandberg zur Schule gegangen. Er war ein schlechter Schüler gewesen, Lennard einer der besten. Seine Familie war arm, die seines Freundes zwar nicht reich, aber dank des gutgehenden Eisenwarenladens frei von finanziellen Sorgen. Lennard schenkte seine Pausenbrote, hartgekochten Eier, Kuchenstücke und Äpfel dem ewig hungrigen Freund, dessen Körper in die Höhe und Breite wachsen wollte und der Nahrung verschlang wie ein Heizkessel Kohle. Zu Hause wurde Lennard gezwungen, seinen gefüllten Teller leer zu essen, und er tat es unter großen Anstrengungen. Dennoch blieb er mager und farblos, und weder drei tägliche Löffel Lebertran noch literweise frische Ziegenmilch vermochten daran etwas zu ändern.
    Lennards Mutter Selma, eine kleine, stämmige Frau, die sich als Bauernkind mit fünf Geschwistern um Brot und Butter gebalgt hatte, war es ein Rätsel, weshalb ihr Sohn nicht endlich Pfunde zulegte und eine Haut bekam, die nicht aussah wie das Gänseschmalz, das sie ihm auf die Frühstücksbrote schmierte. Dann fiel ihr Blick auf ihren großen, schlaksigen Mann mit der hellen, von Sommersprossen und Leberflecken gesprenkelten Haut, und sie wusste, wen die Schuld traf.
    Magnus Sandberg musste in alten Häusern den Kopf einziehen, wenn er unter einer Tür durchging, und sein hageres Gesicht lag unter einem Bart verborgen, dessen Üppigkeit an die Schwarzweißbilder der Gründer von Nora erinnerte. Seine Finger waren lang und von winzigen Schnitten und Kratzern übersät, und wenn er, ohne auf einen Schemel zu steigen, eine Schraube aus einer der obersten Schubladen nahm, sahen sie aus wie Insektenbeine, die eine Beute festhalten.
     
    Lennard wählte Sune zum Freund, weil er jemanden brauchte, der ihm die Rüpel vom Leib hielt, die geheime Welt der Mädchen eröffnete und an den schulfreien Nachmittagen Orte zeigte, die auf Lennards Karte weiße Flecken waren. Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendwer sein Freund sein wollte, verlangte er alle paar Wochen eine Art Treueschwur, und einmal musste Sune sich Lennards Initialen mit einem Taschenmesser in die Handfläche ritzen, bevor er sein Wurstbrot und den Apfel bekam. Sune hatte nichts gegen diese Beweisrituale, solange er nicht mit leerem Bauch im Unterricht saß. An das kurz aufblitzende Gefühl von Scham, das ihn beim Verschlingen von Lennards Essen befiel, hatte er sich schon lange gewöhnt. Diese kleine Erniedrigung war besser, als den Spott der Mitschüler zu ertragen, wenn er das Klassenzimmer mit den gurgelnden Geräuschen seines unterbeschäftigten Magens füllte.
    Sein Vater war ein stiller, in sich gekehrter Mann, der als Gehilfe des Dorfschmieds gearbeitet hatte. Nach dessen Tod fuhr ein neuer Schmied aus Karlskoga mit seinem Lieferwagen zu den Höfen, und Sunes Vater nahm Aushilfsarbeiten an, die nie lange dauerten. Die Leute legten ihm sein Schweigen als Unfreundlichkeit aus, und als jemand das Gerücht verbreitete, er sei ein Wilderer und Dieb, der den Bauern neugeborene Lämmer von der Weide holte, wollte ihn niemand mehr beschäftigen. Er begann aus Holz Figuren zu schnitzen, Einhörner und Waldwesen, gebückte Trolle, denen er ein Stückchen Katzengold in die Hände legte, und Gnome mit Spitzhüten, die einen Kessel voll lackierter Flusssteinchen umschlangen. Oft saß er tagelang im Schuppen neben dem Haus und verließ ihn nur, um mit dem Bus nach Örebro zu fahren, wo er sein Monatswerk an einen Laden verkaufte.
    Sunes Mutter hatte Heimweh nach Finnland, woher sie stammte, und jedes Jahr an ihrem Geburtstag stand sie mit zwei gepackten Koffern im Hausflur, schwankend unter dem Einfluss von Alkohol, Schuldgefühlen und einer verbrauchten Euphorie, die in ihr schwelte wie die Reste eines sich selbst überlassenen Feuers. Nachdem

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