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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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vermutlich noch bei Verstand war und jeden Morgen auf den Postboten wartete, sie ihr vorenthalten hatte. Er fragte sich, ob Orla etwas unternommen hätte, um ihren Schwiegersohn zu finden, oder ob sie seinen Wunsch, mit seiner Trauer alleine gelassen zu werden, respektiert hätte. Der Gedanke, sein Vater könnte inzwischen tot sein, war ihm schon zu Hause gekommen, und jetzt, so nahe am Ziel, wünschte er sich fast, es wäre so. Etwas von der Wut, die ihn nach dem ersten Lesen der Briefe erfüllt hatte, stieg wieder in ihm hoch, und er erinnerte sich an den in einem wirren Taumel von Verletztheit und Hass gefassten Plan, seinen Vater aufzuspüren und zu töten. Conor fiel ihm ein, der auf seinen Vater geschossen hatte, und dass es leicht ausgesehen hatte, abzudrücken.
    Er verstaute die Briefe in der Reisetasche, warf das angebissene Sandwich und die halbleere Packung Saft in einen Abfalleimer und machte sich auf die Suche nach dem Postamt. Dort blätterte er im Telefonbuch und fand unter Sandberg zwei Einträge, doch keiner gehörte zu seinem Vater. Er schrieb den Namen auf ein Stück Papier und schob es dem Mann hinter dem Schalter zu. Jetzt wünschte er sich, er hätte das Bild dabeigehabt, das Orla ihm damals gegeben hatte und das Lennard Sandberg vor einem Haus in Philadelphia stehend zeigte. Wilburs Mutter hatte das Foto gemacht und, zusammen mit anderen, Orla geschickt. Lennard trug einen hellen Anzug, Hut und Krawatte, und sein Lächeln war irgendwie schief, vielleicht auch nur die Grimasse, die beim Blick in die Sonne entsteht. Er war groß und schlank, seine Schultern hingen ein wenig, beide Hände steckten in den Hosentaschen. Das Haus im Hintergrund, ein mit weißen Holzschindeln verkleideter Bungalow, leuchtete im Licht, im Rasen steckte ein Schild mit der Aufschrift FOR RENT . Wilbur hatte das Bild eine Weile behalten, aber weil ihn immer, wenn er es hervornahm und betrachtete, eine Woge aus Traurigkeit und Wut überschwemmte, hatte er es irgendwann zerrissen und die Fetzen weggeworfen.
    Der Schalterbeamte sagte etwas auf Schwedisch, und Wilbur zuckte mit den Schultern und antwortete: »English?« Der Mann schüttelte den Kopf, zeichnete einen Plan auf ein Blatt Papier, schien dem Gewirr ausLinien, Kreuzen und Pfeilen nach einer Weile selber nicht mehr folgen zu können, zerknüllte das Papier und lächelte beschämt. Dann rief er einen Namen durch die offene Tür hinter sich, worauf eine junge Frau mit einem Stapel Briefen in den Händen erschien. Der Mann sagte etwas zu ihr, aus dem Wilbur nur den Namen seines Vaters heraushörte. Die Frau sah Wilbur an, legte die Briefe in ein Regal, schlüpfte unter einer Klappe in der Theke durch und ergriff Wilburs Hand.
     
    Das Haus war in einem blassen Türkis gestrichen und stand zwischen anderen eingeklemmt in einer Straße, die für den Autoverkehr gesperrt war und deren Belag alle paar Meter wechselte, von Asphalt zu Teer, von Naturstein zu Kies und wieder zu Asphalt. Neben einem Haufen Steine stand eine mit Sand gefüllte Schubkarre, in der Zigarettenkippen steckten. Ein paar Schilder, die auf eine Baustelle hinwiesen, lehnten an einer Mauer, ein löchriger Handschuh zierte das Ende eines Schaufelstiels. Die junge Frau sprach ein verkümmertes Schulenglisch und war neben ihm hergegangen wie eine schüchterne Fremdenführerin, die sich für den fehlenden Unterhaltungswert ihrer Tour schämt. Jetzt zeigte sie auf das Haus und sprach den Namen von Wilburs Vater aus. Dann sagte sie etwas, das Wilbur nicht richtig verstand, wiederholte es leicht verändert und lächelte, als Wilbur nickte, obwohl er auch den Sinn der zweiten Aussage nicht begriff. Sie sah ihn an, bis er noch einmal nickte, dann trat sie vor die Tür und drückte auf den Klingelknopf. Das Schrillen ging Wilbur durch Mark und Bein, und wie schon mehrmals zuvor an diesem Tag, verschlug ihm die Angst vor dem Wiedersehen mit seinem Vater fast den Atem. Er schwitzte, und die Tasche erschien ihm plötzlich so schwer, dass er sie zwischen seine Füße auf den Boden stellte. Während sie warteten, las Wilbur den Namen auf dem Türschild und war erstaunt, ihn als Nordahl zu entziffern. Bevor er fragen konnte, wurde die Tür geöffnet.
    Der Mann, der vor ihm stand, war groß und breit und hatte rotbraunes, dichtes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einen Bart in derselben Farbe. Er trug ein altes Paar Jeans und über einem weißen T-Shirt ein kariertes Hemd, das nicht zugeknöpft war und über

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