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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zurück zum Bahnhof und erkundigte sich nach einer Zugverbindung zum Flughafen. Dabei nahm er die Baseballkappe und Sonnenbrille ab und gab sich Mühe, beim Schalterbeamten einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Er fragte, ob es von dort Flüge nach Dublin gebe, worauf der Mann lachend und in holprigem Englisch meinte, das wisse er nicht. Danach schlenderte Wilbur eine Zeitlang möglichst unbeschwert umher, wobei er die Mütze und die Sonnenbrille trug, und ging dann zu einem anderen Schalter, um eine Busfahrkarte in das dreißig Kilometer entfernte Nora zu kaufen.
     
    Der Lärm eines Traktors ließ Wilbur aus dem Schlaf schrecken. Er blinzelte ins Licht, das durch die Lücken zwischen den Brettern fiel und als schiefes geometrisches Muster auf dem Lehmboden der Scheune lag. Er richtete sich auf und spürte einen dumpfen Schmerz im Kopf, der die Nacht auf der Reisetasche gebettet gewesen war. Es dauerte ein paar panische Atemzüge lang, bis er sich erinnerte, wo er war. Das Motorengeräusch verlor sich, und Wilbur kroch aus dem Schlafsack, um seine Schuhe anzuziehen und einen vorsichtigen Blick durch eins der beiden scheibenlosen Fenster zu werfen. Zu seiner Linken erstreckten sich weite, von Hecken und einzelnen Bäumen eingefasste Felder, rechts von ihm lag der Ort, aus dem ein hoher, spitz zulaufender Kirchturm ragte. Grüne, waldbestandene Hügel umwogten die Mulde, in der das Städtchen und der See lagen. Nichts bewegte sich im windlosen Morgen, weder das Gras noch die einzelne Wolke am Himmel, die darauf zu warten schien, vor die Sonne geschoben zu werden. Wilbur rollte den Schlafsack zusammen, stopfte ihn in die Segeltuchtasche und trat auf den schmalen Weg hinaus, der zur Straße führte.
    In einem Laden im Ort kaufte er ein Sandwich und eine Packung Orangensaft und setzte sich damit in der Nähe der Kirche auf eine Bank. Wäre er nicht so aufgeregt gewesen, hätte er die Schönheit des Städtchens bemerkt, die vielen Bäume und die Holzhäuser und das Katzenkopfpflaster der Innenhöfe, die gestrichenen Zäune, dieBlumenkisten vor den Fenstern und den See. Aber nicht einmal zwei weiß und braun gescheckte Pferde, die ein Mann eine Straße entlangführte, konnten ihn aus seinen Gedanken holen. Wenn er sich vorstellte, vielleicht bald seinem Vater gegenüberzustehen, bekam er kaum noch Luft, und sein Herz raste und schlug ihm bis zum Hals. Er atmete, wie Matthew es ihm gezeigt hatte, dann holte er die Umschläge aus der Reisetasche.
    Sein Vater hatte die Briefe an Orla adressiert. Weder auf dem Briefpapier noch auf den Umschlägen war seine Anschrift vermerkt, und er erwähnte mit keinem Wort, wo in Nora er wohnte, ob im eigenen Haus, einer Mietwohnung oder draußen auf dem Land. Im ersten Brief schrieb er, dass ihm alles leid tue, und er bat Orla um Verzeihung. Er fragte nach seinem Sohn, von dem er nicht wusste, dass Schwester Lorraine ihn Wilbur getauft hatte. Im zweiten Brief gestand er, ein feiger und verantwortungsloser Mistkerl zu sein, und bettelte erneut um Vergebung. Der dritte war sehr kurz und endete mit Lennards Bitte, dem Kind nichts von seiner Existenz zu erzählen. Im vierten wechselten sich Verzweiflung, Bitterkeit und Selbstvorwürfe ab, und der fünfte war ein in krakeliger Schrift verfasstes Versprechen, sich nicht mehr zu melden.
    Wilbur hatte die Briefe schon so oft gelesen, dass er sie auswendig konnte. Trotzdem suchte er in ihnen noch immer nach Antworten auf die Frage, ob sein Vater ihn vermisste oder hasste. Lennard Sandberg schrieb viel von sich, von seiner kleinen dunklen Welt, die nach dem Tod seiner Frau untergegangen war, viel von seinem Schmerz und seiner Unfähigkeit, ins Leben zurückzukehren. Er gab weinerlich zu, schwach zu sein, von der Trauer um Maureen gelähmt. Er bat darum, man möge nicht nach ihm suchen, er sei kein Mensch mehr, mit dem man zu tun haben wolle. Die Briefe waren in hitziger Aufgelöstheit hingeschriebene Beichten und Rechtfertigungen, Abbitten und Anklageschriften gegen sich selbst und die Wendungen des Schicksals. Nirgendwo, auch nicht zwischen den Zeilen, stand, dass er so etwas wie Sehnsucht nach seinem Sohn hatte. Aber es stand auch nirgends, dass er Wilbur für den Tod seiner Mutter verantwortlich machte. Das Fehlen dieses Vorwurfs war es gewesen, das Wilbur den Mut hatte aufbringen lassen, die Reise zu unternehmen.
    Die Briefe stammten alle aus dem Jahr 1985. Wilbur fragte sich, ob Orla sie gelesen hatte oder ob Eamon, der zu jener Zeit

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