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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sie mehrere Stunden lang geweint und die Tür angestarrt hatte, als würde diese sich gleich öffnen und ihr Vater sie bei der Hand nehmen und nach Hause führen, ging sie ins Schlafzimmer, räumte ihre Sachen zurück in den Schrank, legte sich aufs Bett und verschlief ein weiteres Jahr.
     
    Henrik, einer von Lennards Onkeln mütterlicherseits, lebte seit fast zwanzig Jahren in Philadelphia, wo er und seine Frau Katarina mit einer Reinigungsfirma zu beträchtlichem Wohlstand gekommen waren. Weil die beiden keine eigenen Kinder haben konnten, behandelten sie Lennard, den sie während eines Heimatbesuchs als Dreijährigen gesehen hatten, wie ihren Sohn, und an seinem achtzehnten Geburtstag luden sie ihn ein, sie zu besuchen. Damals arbeitete Lennard seit zwei Jahren im elterlichen Geschäft, das er einmal übernehmen sollte, und Sune half im Lager aus, erledigte Botengänge und kehrte jeden Feierabend den Boden des Ladens und den Gehsteig davor.
    Lennards Eltern fanden keinen Gefallen an der Idee, ihren Sohn in ein Land reisen zu lassen, das so weit weg lag, sich in einem Krieg befand und außerdem Keimzelle der verstörenden Musik war, die manchmal aus Sunes Transistorradio durch die Tür des Lagerraums drang. Aber Lennard ließ sich die Möglichkeit, der Enge Noras und der Ereignislosigkeit Västmanlands zu entfliehen, nicht entgehen, und er nahm das Geld des Onkels, kaufte damit statt eines Flugtickets zwei Karten für eine Überfahrt auf dem Schiff und schleppte Sune mit wie ein schweres Stück Gepäck.
    Philadelphia war riesig, laut und schmutzig, und es war großartig in den Augen der beiden Jungen vom Land, die sich in der Stadt bewegten wie Astronauten auf einem fremden Stern. Lennard, dessen Entschluss, in Amerika zu bleiben, bereits nach wenigen Wochen feststand, ließ sich von Onkel Henrik in die wunderbare Welt der Buchhaltung einführen, während Sune mit einem der fünf Putztrupps loszog, um Büroböden zu polieren und von Schaufenstern in der Innenstadt schwarzen Ruß zu waschen. In seiner Freizeit fuhr Lennard mit Onkel Henrik und Tante Katarina im silbernen Lincoln durch die Stadt, ging mit ihnen ins Planetarium, in Museen und an historische Orte, und mit jeder Sehenswürdigkeit, die ihm mit schwedisch-amerikanischem Stolz vorgeführt wurde, schwanden seine Erinnerung an die alte Heimat und der Wunsch, dorthin zurückzukehren.
    In langen Briefen nach Hause pries er Philadelphia und sein neues Leben mit Worten, die seine Eltern im Lexikon nachschlagen mussten, um sie zu verstehen. Am Telefon malte er die Bilder der kommenden Jahreso fiebrig, dass sein Vater die Bemühungen, ihn für die Weiterführung des Eisenwarenladens zu gewinnen, bald aufgab. Seine Mutter hielt die Hoffnung noch eine Weile aufrecht, aber wenn ihr Sohn vom baldigen Kauf eines gebrauchten Wagens oder der geplanten Beantragung einer Arbeitserlaubnis erzählte, wurde auch sie stumm und brach nach dem Auflegen in Tränen aus.
    Es dauerte ein halbes Jahr, bis seine Eltern Lennards Entscheidung als unwiderruflich akzeptierten, und auch dann fehlte ihnen das Verständnis, sie zu billigen. In ihren Augen hatte sich ihr Sohn des Verrats schuldig gemacht. Aus einer jugendlichen Laune heraus und aufgewiegelt von rebellischer Musik, kehrte er der Familie den Rücken und gab eine gesicherte Zukunft in der Heimat auf, um fernab seiner Wurzeln fragwürdigen Träumen nachzujagen. Sie waren so enttäuscht und verbittert, dass sie die Briefe aus Philadelphia weder lasen noch beantworteten und bei den immer spärlicher werdenden Anrufen ihres Sohnes nur noch einsilbig bestätigten, am Leben zu sein. Schließlich legten sie wortlos auf, wenn Lennard sich meldete. Ihr einziger Sohn war für sie gestorben, ebenso Henrik und Katarina, die an allem die Schuld trugen.
     
    Sune, der mietfrei über der Garage neben dem Haus wohnte, lebte sein eigenes Leben. Nach der Arbeit trank er bisweilen ein Bier mit den Kollegen, von denen alle, bis auf zwei schwermütige Brüder aus Iowa, mexikanische Einwanderer waren. Bei schönem Wetter setzte er sich an den Abenden in einen Park und sah den Softballspielen zu, einer familientauglichen Version von Baseball, deren Regeln für ihn so rätselhaft waren wie die des Originals. An den Wochenenden kam es gelegentlich vor, dass er und Lennard gemeinsam etwas unternahmen, im Bus und in der U-Bahn herumfuhren, ins Kino gingen oder in eine der Bars, wo man Frauen, die sich auf der Bühne auszogen, Dollarnoten ins Höschen

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