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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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hat mir erzählt, dass es im Hotel bis vor einem halben Jahr noch ein Zimmermädchen gab, das Staub gesaugt und im Keller die Bettwäsche gewaschen und getrocknet hat. Als die Maschinen den Geist aufgaben, das Zimmermädchen eine alte Frau wurde und der Hotelbesitzer kein Geld für Neuanschaffungen lockermachte, verkündete Randolph, die Gäste müssten ab sofort ihre Zimmer selber sauber halten und die Bettwäsche auf eigene Kosten waschen lassen. Als Trost versprach er den maulenden Männern, Madame Robespierres Arbeitsplatz sei unantastbar.
    Die Hälfte der Tische ist besetzt. Alfred schlingt Rühreier mit Schinken und Bohnen hinunter, Enrique schwitzt über einem Teller Eintopf und Reis. Mazursky kämpft mit einer Zeitung wie ein Tourist mit einemStadtplan, während seine Krawatte in der Porridgeschüssel hängt. Elwood und ein alter Mann, der gelegentlich hier übernachtet und dessen Namen ich mir nicht merken kann, sitzen vor ihrer Tasse Kaffee und schweigen sich an, ein vom Leben ernüchtertes Ehepaar, das im Wartesaal die Abfahrt des Zuges verdämmert. Spencer, herausgeputzt wie zu einem Rendezvous, frühstückt englisch mit Tee und Toast und Orangenmarmelade, die er selber besorgt. Er nickt Aimee und mir zu und gießt dann Milch in seine leere Tasse.
    Ich sage Madame Robespierre, dass Aimee mein Gast sei, und als sie mich fragend ansieht, lege ich kurz und eher pantomimisch meinen Arm um Aimee zum Zeichen unserer Zusammengehörigkeit. Madame Ro bespierre versteht und lacht und droht mir mit einem Schöpflöffel. Aimee lässt sich Spiegeleier geben und gebratene Tomaten und Würstchen und Bohnen in Tomatensoße und einen Stapel Toastbrot und dazu Kaffee. Ich bekomme mein übliches Kännchen Tee und eine Schüssel halbvoll mit Cornflakes. Wir setzen uns an den Tisch, an den ich mich vor fünf Tagen zum ersten Mal gesetzt habe. Leonidas, der sich nach dem Ende seiner Schicht mit einem Kaffee für den Heimweg stärkt, hatte mich aufgefordert, meinen Tee hier zu trinken statt alleine in meinem Zimmer. Der Tisch steht ein Stück weg von der Theke und ihren Gerüchen und den Männern, die schlürfen und schmatzen und dummes Zeug reden und sich mit Zahnstochern Fleischfasern zwischen den lockeren Brücken hervorpulen.
    »Ist das alles?« fragt Aimee und deutet auf meine Cornflakes, die ich mit Milch übergossen habe. Doughnuts gibt es hier keine, dafür getrocknete Fische und grüne Papayas. Cornflakes, Toast und Haferschleim sind die einzigen Zugeständnisse, die Madame Robespierre an kontinentale Frühstücksgepflogenheiten zu machen bereit ist.
    »Ja«, sage ich. Ich warte, bis sie isst. Ich kann nicht essen, wenn jemand am Tisch sitzt, es sei denn, dieser jemand isst auch. Wenn ich kaue, erscheint es mir unanständig laut, obwohl mein Mund geschlossen ist. Außerdem denke ich dauernd, dass mir Essensreste zwischen den Zähnen stecken oder in den Mundwinkeln kleben. Nach jedem Bissen wische ich mir mit einer Papierserviette die Lippen sauber und taste mit der Zunge diskret über die Zahnreihen.
    »Du solltest mehr essen«, sagt Aimee. Sie tunkt ein Stück Brot in den Eidotter, steckt es zwischen die Lippen und leckt die Finger ab. »Was Richtiges. Nahrhaftes.«
    »Damit ich groß und stark werde?«
    Aimee sieht mich an, hört auf zu kauen und runzelt die Stirn. »Nein, damit du was im Magen hast«, sagt sie ernst und irgendwie vorwurfsvoll. »Die Arbeit hier ist bestimmt kein Spaziergang am Strand.«
    »Ich esse zwischendurch was«, sage ich möglichst munter. Das mit dem groß und stark war dumm von mir. Aimee kann ja nichts von Pauline Conway ahnen. Davon, dass mich meine Mutterdarstellerin dauernd zum Essen genötigt hat. Der festen Überzeugung, dass zwischen meiner hageren Erscheinung und einem kräftigen Körper nur eine seit Jahren existierende Wüste des Mangels lag, die es in Begleitung einer Karawane aus Kohlehydraten, Fetten, Kalorien und Vitaminen zu durchqueren galt, hatte diese Frau so viel Essen vor mich hingestellt, dass die Fata Morgana meines zukünftigen Ichs vor meinen Augen in dampfenden Schleiern von Übelkeit verschwand. Ihr mit verbissener Fürsorglichkeit ausgearbeitetes Vorhaben, mich zu einem normalen Jungen zu mästen, scheiterte am Widerstand meiner Gene, und alles, was mir aus jener Zeit geblieben ist, sind chronische Appetitlosigkeit und Verstopfung. Drängt man mich dazu, ein Lieblingsgericht zu nennen, sage ich Reis mit Gemüse und Sojasoße. Aber eigentlich esse ich nicht gern,

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