Nach Hause schwimmen
hier. Ich bin ihr Augenzeuge, ihr Korrekturleser, eine mögliche Quelle, von der sie sich ein paar Informationen erhofft, an die sie nicht herangekommen ist. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie noch mit mir zusammen ist. Vielleicht hat sie die Typen aus demselben Grund ins Gartenhaus geschleppt.
»Was ist?«
Ich sehe Aimee an. Die Narbe ist kaum zu erkennen in diesem Licht. Es regnet wieder, ich kann hören, wie die Tropfen auf das Flachdach über uns trommeln. Wir haben nie über die Sache im Gartenhaus gesprochen, richtig, meine ich. Oder warum sie bei mir im Hotel aufgetauchtist. Sie hat nie gesagt, dass sie mich liebt. Sie hat mit mir geschlafen, aber von Liebe war nie die Rede. Vielleicht hat Aimee außer mir noch andere ehemalige Bewohner von Vermeers Stadt besucht. Kann sein, dass sie eine Liste hat, auf der ich eine Nummer bin.
»Will?« Aimee lächelt, winkt mit einer Hand. »Ist was?«
Ich schüttle den Kopf, dann beginne ich zu lesen.
Aimee beschreibt die Stadt der Selbstmörder als eine Mischung aus Erholungsheim für Lebensmüde und Forschungslabor eitler Psychologen, in dem die Insassen als ahnungslose Versuchskaninchen gehalten werden. Vermeer stellt sie als ehrgeizigen und in Europa heftig umstrittenen Wissenschaftler dar, dem das geistige und körperliche Wohl seiner Patienten weniger wichtig ist als die Möglichkeit, an ihnen neue und unorthodoxe Behandlungsmethoden zu testen. Sie behauptet, aufgrund falscher und ungenügender psychologischer Betreuung und dem fast gänzlichen Verzicht auf medikamentöse Behandlung würden viele der Insassen einen weiteren Suizidversuch unternehmen, oftmals noch während ihres Aufenthalts in der Offenen Abteilung. Sie erwähnt zwei Fälle von Selbstmord in Vermeers Stadt, und obwohl die Namen geändert sind, erkenne ich James Foster, der Glasscherben geschluckt, und Roger Willett, der sich mit Chlor vergiftet hat. Aimee schreibt, die beiden würden noch leben, wenn sie richtig behandelt worden wären, statt »in einer Art Ferienheim herumzuspazieren, unterschwellig depressiv, wandelnden Zeitbomben gleich«.
Ich lese den letzten Satz und lege die Blätter ordentlich hin. Der Regen hat aufgehört oder so sehr nachgelassen, dass er auf dem Dach nicht mehr zu hören ist. Das kleine Zimmer riecht nach Kaffee und schwach nach Duftöl oder Räucherstäbchen. Meine Beine fühlen sich ein wenig taub an, mein Kopf auch. Seltsamerweise habe ich Hunger.
»Und?« fragt Aimee nach einer Weile.
»Ich weiß nicht«, sage ich.
»Du weißt nicht?«
Soll ich ihr sagen, dass mir der Artikel egal ist? Dass ich keinen Grund sehe, weshalb er veröffentlicht werden sollte? Ich halte Vermeer weder für größenwahnsinnig noch für skrupellos. Ob er fachlich inkompetentoder ein revolutionärer Geist ist, kann ich nicht beurteilen. Zu mir war er freundlich, ich mochte seinen Akzent. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Strick, daneben steht ein leerer Fotorahmen. Er ist ein wenig seltsam, vielleicht verrückt. Das macht ihn mir irgendwie sympathisch. Aber ich war kein richtiger Patient. Ich wollte mich nicht umbringen, nicht vor und nicht während meines Aufenthalts in seiner Stadt. Keine Ahnung, ob seine Ideen den Männern helfen oder schaden. Ich habe nie eine andere Institution von innen gesehen und weiß nicht, ob die Patienten dort weniger oft versuchen, sich ein zweites oder drittes Mal umzubringen.
»Ich bin froh, dass ich eine Weile dort sein konnte«, sage ich.
Aimee nimmt den Papierstapel von meinen Beinen, erhebt sich und legt ihn auf den Schreibtisch.
»Melvin ist gar kein Patient.«
»Was?« Ich wollte gerade sagen, dass ich auch froh sei, sie dort getroffen zu haben, aber wahrscheinlich will sie das im Moment nicht von mir hören.
»Dein Zimmergenosse hat nie versucht, sich umzubringen. Er ist Psychologe, ein Angestellter des Instituts.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben. Leute reden. Es gibt Akten.« Aimee gießt sich Kaffee in die Tasse. »Vermeer war übrigens ganz schön sauer, als du einfach abgehauen bist. Du warst die ideale Besetzung für das Treffen mit dem Ausschuss.«
Ich sitze da und sehe auf meine Beine. Ich kann das Gewicht des Artikels noch auf ihnen spüren. Ein Spielplatz für Selbstmörder .
»Ich wollte mich nicht umbringen.«
Aimee sagt nichts. Sie bläst in ihre Tasse und trinkt.
»Es war alles ein Riesenmissverständnis.«
»Vielleicht«, sagt Aimee. »Weißt du, dass ich deinen Koffer geklaut habe?«
»Wie,
Weitere Kostenlose Bücher