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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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einen Augenblick zögern und dann die Wahrheit sagen. Die drei werden sich plötzlich sehr intensiv mit dem Essen auf ihren Tellern beschäftigen, ein paar unverfängliche Bemerkungen machen und das Thema wechseln. Sie werden sehr freundlich sein und mich erst zerpflücken, wenn ich weg bin.
    Nein, ich will nicht hier sein. Die Hände in den Taschen, stehe ich mir selber im Weg herum. Ich überlege noch immer an einer Bemerkung zu diesem Raum, etwas locker Dahingesagtem, aber mein Kopf ist leerer als diese vier Wände, und außerdem wäre es jetzt sowieso zu spät. In meinem Hotelzimmer könnten Aimee und ich auf dem Bett liegen und aus den Wasserflecken an der Decke Tiere lesen und Zeppeline und Dampfschiffe. Wir könnten dafür sorgen, dass uns warm wird, während aus Dobbs’ Zimmer leise Musik herüberdringt und sich mit dem Geräusch des Regens mischt.
    »Milch und Zucker?«
    »Ja, bitte.« Ich gehe in die Küche, einen hellen Raum, der von einem Tisch und sechs Stühlen beherrscht wird und dessen Wände in unregelmäßigem Orange gestrichen sind. Aimee drückt die Tür des Kühlschranks mit dem Fuß zu und stellt eine Packung Milch auf die Spüle. Natürlich hängt ein Plakat des New Yorker Zoos an der Wand, und natürlich zeigt es einen Tiger. Vor diesem Bild sitzt Stewart bestimmt jeden Abend und verzapft den drei hingebungsvoll lauschenden Frauen seine Märchen.
    »Ich hab überhaupt keine Möbel«, sage ich. Dann erst frage ich mich, warum ich das gesagt habe.
    Aimee sieht mich an. Wahrscheinlich stellt sie sich dieselbe Frage. »Im Hotel. Die einzigen Dinge, die mir gehören, sind der Steinzeitfernseher und die Heizung.«
    »Ich hatte mal eine Menge Möbel«, sagt Aimee, »aber sie wurden gestohlen.« Sie gießt kochendes Wasser über den Kaffee und wartet, bis es durch den Filter getropft ist. Die feinen Haare in ihrem Nacken leuchten im Licht der Papierlampe, die als weißer Mond über dem blauen See des Tisches schwebt. »Vor ein paar Jahren, in Queens. Zwei Wochen nach dem Einzug war alles weg. Bis auf die Matratze, Bücher, Kleider und Kleinkram.«
    Ich würde gerne Aimees Kleinkram sehen, gerne wissen, was sie im Lauf der Jahre gesammelt hat. Ob sie Steine vom Strand mitgenommen, Figuren aus Cornflakes-Packungen behalten hat, ob sie in einer verbeulten Keksdose Spielsachen aufbewahrt und Fotos und Briefe und ob sie genauso an den Dingen hängt wie ich.
    Stattdessen frage ich: »Hattest du eine Diebstahlversicherung?« Das letzte Wort klingt so banal und obszön, dass ich schreien möchte, um seinen Nachhall zu übertönen.
    Aimees Kopf ist leicht schräg gelegt, und sie sieht abwesend oder verträumt zu, wie der Kaffee durch den Filter rinnt und sich in der Glaskanne sammelt. Eine Haarsträhne hängt ihr ins Gesicht und bewegt sich leicht im Rhythmus ihrer Atemzüge. Sie fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die spröde und rissig sind wie meine. Ich würde gerne hinter sie treten und die Arme um sie legen und sie auf den Halsküssen, aber das geht nicht, nicht nach einem Satz, der mit dem Wort Diebstahlversicherung endete. Ich frage mich, ob sie mich jetzt für einen totalen Vollidioten hält.
    »Nein«, sagt Aimee. Sie schüttet das restliche Wasser in den Filter und stellt den Kocher weg. »Ich mag Versicherungen nicht.« Dann belädt sie ein Tablett mit der Kanne, zwei Tassen und Löffeln und der Milchtüte. »Der Zucker ist da«, sagt sie, deutet auf einen offenen Schrank und geht aus der Küche.
    Ich folge ihr mit der Zuckertüte, aus der ein Löffel ragt, in ihr Zimmer. Wir setzen uns auf den Boden, mit dem Rücken zum Bett, und sie schenkt Kaffee ein. Dann gießt sie Milch in meine Tasse und gibt zwei Löffel Zucker dazu. Dass sie sich daran erinnert, macht mich glücklich, und ich will ihr das sagen, aber dann warte ich zu lange, und der Moment ist vorbei. Sie trinkt einen Schluck ihres schwarzen Kaffees, steht auf und nimmt einen Stapel Papier vom Tisch, den sie mir reicht. Es sind vielleicht zwanzig Seiten, große Schrift, doppelter Zeilenabstand. Auf dem obersten Blatt steht: Ein Spielplatz für Selbstmörder, darunter, etwas kleiner: Unhaltbare Zustände im Caldwell Institut und: Von Aimee Ward.
    »Lies ihn einfach mal und sag mir dann, was du davon hältst.« Aimee setzt sich wieder neben mich und schlingt die Arme um die angewinkelten Beine.
    »Jetzt?« frage ich.
    Aimee nickt. »Du warst da. Wenn ich etwas Falsches geschrieben habe, sag’s mir.«
    Deswegen bin ich also

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