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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ihren Beruf ungewöhnlich schlanke Frau um die sechzig, zum Tischedecken in den Speisesaal. Dort legte Wilbur Messer, Gabeln und Löffel neben Teller, von denenzu seinem Erstaunen viele mit verblassten Aufdrucken versehen waren. THE HARBOUR INN stand auf einigen, auf anderen FERNHILL MANOR und THE COURT YARD HOTEL . Wilbur vermutete, dass die Teller entweder auf Auktionen günstig zusammengekauft worden oder Geschenke von Hotels waren. Auch bei den Gläsern sah kaum eines wie das andere aus. Er stellte niedrige dicke neben hohe mit eingeschliffenem Muster und ehemalige Marmeladengläser neben zerkratzte Plastikbecher. Nur das Besteck war gleich, billige ausgestanzte Ware, die man ohne Kraftaufwand verbiegen konnte.
    Nach dem Decken der Tische musste Wilbur mit einem Jungen, den Geraldine ihm als Jason vorgestellt hatte und der ihm widerwillig die Hand gegeben hatte, Dosen mit Pfirsichhälften aus dem Vorratsraum hinter der Küche holen.
    »Was haste denn ausgefressen?« fragte Jason. Er war um mehr als einen Kopf größer als Wilbur, hatte millimeterkurzes schwarzes Haar und schwarze Augen, und er blinzelte viel und heftig. Wilbur deutete das Blinzeln als nervösen Tick und fragte sich, ob man so etwas hier drin entwickelte.
    »Brandstiftung«, sagte Wilbur möglichst beiläufig, während er die schweren Dosen, die Jason von einem Regal nahm, auf einen Rollwagen stapelte. Er hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass es ratsam war, im Gefängnis den Eindruck eines Kerls zu vermitteln, mit dem nicht zu spaßen war.
    Jason sagte nichts, auch nicht, warum er hier war. Und Wilbur fragte nicht. Sie brachten die Dosen in die Küche und öffneten sie. Die drei anderen Burschen, alle älter und größer als Wilbur, putzten Gemüse, schnitten Kartoffeln in Scheiben und rührten, wenn die mit Teigkneten beschäftigte Geraldine es ihnen sagte, in den Töpfen. Einer von ihnen, ein kräftiger Rothaariger, sah Wilbur immer wieder mit spöttischem Blick an und schnitt Grimassen. Wilbur setzte sich auf einen umgedrehten Eimer, schälte Kartoffeln und hielt den Kopf gesenkt.
    Geraldine summte während der Arbeit, aber ihre Stimme reichte nicht einmal entfernt an die von Orla heran. Als sie Mistletoe and Wine trällerte, schnitt Wilbur sich in den Finger. Der Rothaarige grinste. Geraldine wusch Wilburs Wunde unter kaltem Wasser aus, verband sieund meinte, Wilbur solle die Finger von Messern lassen und stattdessen das Rühren in den Kochtöpfen übernehmen.
     
    Irgendwann drang der Lärm von Schritten durch die Flure, und wenig später setzten sich einhundertzweiundzwanzig Jungen an die Tische. O’Carroll und John Kearney, ein stiller und gutmütiger Wärter, der kurz vor der Pensionierung stand, beaufsichtigten die Zöglinge, die sich in Gruppen zum Essenfassen anstellten. Wie Geraldine ihn geheißen hatte, stand Wilbur neben dem Rothaarigen, der Suppe schöpfte, und legte eine Scheibe Brot auf jedes Tablett, das ihm hingehalten wurde. Die Hand mit dem verletzten Finger hielt er so, dass man den blutigen Verband nicht sehen konnte. Er zwang sich, jedem der Jungen ins Gesicht zu sehen, aber nur wenige erwiderten sein kurzes Nicken. Die meisten musterten ihn gleichgültig, einige abschätzig oder sogar feindselig. Nur einer strahlte ihn nach einem Moment ungläubigen Staunens an. Wilbur brauchte noch länger, um sein Gegenüber zu erkennen. Dann weiteten sich seine Augen, und seiner Kehle entfuhr ein heiserer Laut. Sämtliche Köpfe drehten sich in seine Richtung, an den Tischen wurde getuschelt und gelacht. O’Carroll verbat sich die Unruhe, und die Jungen verstummten.
    Conor legte einen Finger auf die grinsenden Lippen, nahm dem erstarrten Wilbur das Brot aus der Hand und ging weiter.

10
    Aimee wohnt in einem schmalen Backsteinhaus, dessen untere Hälfte dunkelrot gestrichen ist und an dessen Stirnseite im Zickzack eine schwarze Feuerleiter verläuft. Auf den Gitterböden der Feuerleiter stehen Töpfe mit verkümmerten Pflanzen, über die man im Brandfall klettern müsste. Der Verputz der beiden oberen Stockwerke ist weiß, Leitungen und Kabel wachsen aus ihm heraus und spannen sich schlaff über einem Stück Rasen bis zum Nachbarhaus. Der Gehsteig vor dem Gebäude ist ein Flickenteppich aus Betonplatten, Verbundsteinen, rissigem Zement und mit Kies vermischtem Teer. Angekettet an einen schiefen Zaun lehnt ein Rennrad, dem der Sattel und das Vorderrad fehlen. Aimee erzählt, es gehöre Stewart, einem ihrer Mitbewohner. Er nehme

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