Nach Hause schwimmen
schließlich ganz. Sie kümmerte sich um Kieran, wenn Aislin ihren Mann in Dublin oder Conor in Four Towers besuchte, sie zog Gemüse in einem Garten hinter dem Haus und arbeitete an drei Nachmittagen als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen in Sligo. Die Zeiten, in denen sie ihren Mann vermisste, waren schon lange vorbei, und auch wenn die Erinnerung an Rosie nicht verblasste, so schmerzte sie nicht mehr wie früher. Ihr Leben war jetzt hier, mit Aislin, Kieran und der zehnjährigen Fiona, die sie, ohne Rosies Platz im Herzen herzugeben, liebte wie das eigene Kind.
Aislin stand neben dem VW-Bus und wartete, bis Sean ausgestiegen war. Der einst so kräftige Mann war schmaler geworden und gleichzeitig langsamer, zögernder. Seine Bewegungen hatten nichts Bedrohliches mehr, wirkten auf eine beruhigende Art träge, beinahe sanft. Alles, was er sah, betrachtete er lange, als versetzte ihn seine Umgebung unablässig in Erstaunen. Er trug mittlerweile eine Brille, deren rechtes Glas beschichtet war und das hängende Lid verbarg. Sein Haar war stellenweise grau geworden, aber Aislin hatte dafür gesorgt, dass es nicht mehr alle zwei Wochen geschnitten wurde. Die Autotür, die er vor Jahren achtlos mit dem Fuß zugestoßen hätte, schloss er jetzt vorsichtig und auf rührende Art umständlich, sah sich dann neugierig um und machte dabei winzige Schritte auf dem Kies.
»Komm«, sagte Aislin und ergriff Seans rechte Hand, die kraftlos und immer etwas kühler als die linke war. »Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst.« Bedächtig, als hätten sie alle Zeit der Welt, gingen die beiden zu der Wiese. Mary war mit dem Pferd an den Zaun gekommen und tätschelte den Hals des Tieres. All You Can Eat war eine fünfjährigeFuchsstute, die ihren Namen ihrem enormen Appetit verdankte und deren früherer Besitzer sie loswerden wollte, bevor sie ihm die Haare vom Kopf fraß. Sie hatte wunderschöne Augen mit langen Wimpern, und jeden, der sie fütterte, liebte sie innig.
»Sean, das ist meine Freundin Mary«, sagte Aislin.
Mary lächelte und streckte Sean die Hand entgegen. »Freut mich sehr, Sean.«
»Uun Ag, Ary«, sagte Sean. Seine Stimme war leise und stockend wie die eines jungen Mannes beim ersten Rendezvous, aber er ergriff Marys Hand ohne zu zögern und schüttelte sie lächelnd eine Weile.
»Und das ist Kieran.«
Der inzwischen einundzwanzigjährige Kieran saß ein wenig nach vorne gekrümmt im Sattel, hielt die Zügel fest in beiden Händen und schaukelte mit dem Kopf vor und zurück. Er war ein hübscher Bursche geworden, mit wachen Augen und vollen, geschwungenen Lippen, die sich ständig bewegten, auch im Schlaf. Die Haare, die an Stirn und Nacken unter dem Helmrand heraushingen, schimmerten schwarz. Trotz der vielen Stunden im Freien war seine Haut hell, und hätte man einen Makel an ihm benennen müssen, wären es die von einer leichten Akne und der täglichen Rasur geröteten Stellen an Kinn und Hals gewesen.
Jedem, der Sean Lynch als jungen Mann gekannt hatte, wäre die verblüffende Ähnlichkeit Kierans mit seinem Vater aufgefallen. Aislin musste für einen Moment den Blick von den beiden wenden, um nicht zu weinen. Sie sah zum Haus hinüber, wo Fiona hinter dem Küchenfenster saß und die Szene beobachtete.
»Uun Ag, Kian«, sagte Sean und hielt dem Jungen die Hand hin.
Kieran sah seine Mutter an und ergriff, als Aislin nickte, die Hand seines Vaters. Sean lächelte. Ein Projektil steckte in dem Teil seines Gehirns, das für die Aufbewahrung von Erinnerung zuständig war. Er erkannte die Person nicht, deren Hand er eine Weile freundlich schüttelte. Es war noch nicht lange her, da hatte er in der gleichen Werkstatt gearbeitet wie vor Jahren sein Sohn. Beide hatten Bilderrahmen geschliffen, stumm und eingetaucht in eine Welt, die es nicht mehr gab und die sie in gleißend hellen Gedanken endlos durchstreiften, einsam und verloren und für immer in ihr aufgehoben. Beide wussten nicht oder hattenvergessen, wer sie waren, aber beide lächelten in der unerschütterlichen Gewissheit, in diesem Augenblick glücklich zu sein.
Robert Moriarty hatte schon als Junge in einem leerstehenden Fabrikgebäude außerhalb Dundalks Tauben gezüchtet. Fünf Jahre lang verbarg er seine Leidenschaft vor den Eltern. Sein Vater, ein Busfahrer und Laienprediger, bezeichnete die Tiere als gefiederte Ratten, und seine Mutter, die in einem Friseursalon arbeitete, hätte sich Sorgen wegen der Baufälligkeit des Fabrikgebäudes
Weitere Kostenlose Bücher