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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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und in ihren Köpfen stiegen für Sekunden die Wörter auf, drehten eine Ehrenrunde über Feldern der Ahnungslosigkeit und sanken zurück ins Nichts. Für die meisten Zöglinge waren Tauben einfach irgendwelche Vögel, nicht der Rede wert, im besten Fall bewegliche Ziele für Schießübungen mit der Steinschleuder oder dem Kleinkalibergewehr, für manche Hühnchenersatz in mageren Zeiten. Andere hielten sie, die Ansicht ihrer Eltern übernehmend, für fliegendes Ungeziefer, ekliges Federvieh, auf dem es von Parasiten wimmelte.
    Einer der Jungen, Noel Moger, ein ebenso schlauer wie unberechenbarer Bursche aus Tuam, der wegen Einbruchdiebstahls und leichter Körperverletzung in Four Towers war, hatte irgendwo gelesen, Taubenkot zerstöre Gebäude und Denkmäler, weshalb in vielen Städten der Welt versucht werde, die Zahl der geflügelten Pest zu reduzieren. Gift und Geburtenkontrolle seien taugliche Mittel, hatte er heimlich verlauten lassen, aber womit er seine Zuhörer faszinierte, war die Nachricht, an einigen Orten würden abgerichtete Greifvögel gegen die Tauben eingesetzt. Viele der Jungen kamen aus ländlichen Gegenden, wo die Jagd zum Alltag gehört, und die Vorstellung, einen dressierten Falken, Bussard oder Habicht zu besitzen, der Moriartys Viecher vom Himmel holte, ließ sie verträumt lächeln. Natürlich verbargen sie ihre Verachtung für die Tauben vor dem Direktor, aber wann immer ein Raubvogel durch das begrenzte Stück Himmel flog, das ihnen durch ein Fenster oder zwischen den Mauern zu sehen erlaubt war, blitzten für Sekunden ihre Augen auf.
    Das Ausmisten war freiwillige Arbeit. Moriarty wollte nicht, dass die Jungen die Tauben hassten, nur weil sie deren Exkremente entfernen mussten. Die meisten taten es ein paar Mal, dann hörten sie auf, sichzu melden, weil es ihnen keine Vergünstigungen einbrachte. Einige hatten Interesse an der Taubenzucht vorgetäuscht, um beim Direktor einen Stein im Brett zu haben, aber so funktionierte Moriartys Theorie nicht. Die Vögel sollten einfach da sein. Der Sinn ihrer Anwesenheit bestand einzig und allein darin, den Jungen zu zeigen, dass Lebewesen durchaus miteinander existieren konnten, ohne sich zu betrügen und zu bestehlen, zu verletzen oder gar umzubringen. Der Kot der Vögel war ein Abfallprodukt dieses Anschauungsunterrichts, und er musste hin und wieder entfernt werden. Aber diese Arbeit wollte Moriarty nicht belohnen, jedenfalls nicht mit direkten Vorteilen. Im Verlauf der Jahre kannte er die paar Burschen, die bei der Stange blieben, und wenn ihre Zeit kam, um eine vorzeitige Entlassung zu beantragen, vermerkte er ihre Stunden im Taubenschlag als freiwillige Einsätze, nicht mehr und nicht weniger. Meldete sich kein Freiwilliger, stieg Moriarty mit Schaufel und Eimer in den Turm hoch und erledigte die Arbeit selber. Er war überzeugt, dass er damit den Jungen ein gutes Beispiel gab.
     
    Conor trug sich jeden Montag in die Liste ein. Die Arbeit im Taubenschlag betrachtete er als eine Möglichkeit, dem Wochentrott zu entfliehen. Mit der Tatsache, eingesperrt zu sein, hatte er sich längst abgefunden, aber die Eintönigkeit der Tagesabläufe machte ihm zu schaffen. Die drei Stunden am Samstagmorgen, wenn seine Mitinsassen die Wände und Böden der Waschräume und der Küche schrubbten, Feuerholz hackten, im Hof mit Stöcken auf ihre Matratzen eindroschen oder auf Knien die Böden der Schlafsäle und Flure bohnerten, schabte er mit einer Blechschaufel Taubenmist vom Boden des Wachturms und genoss die Aussicht.
    Bei den ersten Malen waren die Tauben noch weggeflogen. Er hatte ihnen nachgeschaut, wie sie als langgezogene Linie in Richtung Meer verschwanden und dann, weit weg und zum flirrenden Wölkchen geschrumpft, ins Landesinnere abdrehten und in einem großen Bogen zurückkamen, um sich in Gruppen auf den Dächern der anderen Türme niederzulassen. Dort saßen sie dann und warteten, bis er fertig war. Doch Conor ließ sich Zeit. Er hatte drei Stunden für sich alleine, und die schöpfte er aus. Weil Moriarty es so wollte, trug er bei der Arbeiteinen grauen Overall, eine Atemmaske aus Zellstoff, eine Schutzbrille und Handschuhe, was sein Gefühl, weit weg und isoliert zu sein, noch verstärkte.
    Wenn er mit der Arbeit fertig war und sich an der Landschaft sattgesehen hatte, legte er sich meistens noch eine Weile auf den Rücken, schloss die Augen und hörte den Geräuschen der Tauben zu. An kühlen, verregneten Tagen hockten die Vögel in ihren Nischen

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