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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Stiefmutter zu vergiften, und Liam O’Toole war nach einer Schlägerei neben seinem halbtoten Freund aufgewacht.
    Moriarty ließ keinen Zweifel daran, dass sich diese Burschen eine große Schuld aufgeladen hatten und zur Rechenschaft gezogen werden mussten, aber sie waren für ihn keine Schwerkriminellen, die es wegzusperren galt. Seine Lebensaufgabe sah er darin, die Zöglinge in Four Towers zu tüchtigen, verantwortungsvollen Menschen heranzubilden, und die Conors Entwicklung betreffenden Notizen, die er in die Akte eintrug, belegten dieses Vorhaben. Tauchten in den Vermerken zu Beginn noch Adjektive wie aufmüpfig, störrisch, aggressiv und unruhig auf, wurden diese im Laufe der Zeit ersetzt durch anpassungsfähig, wissbegierig und kooperativ. Moriarty beobachtete Conors Verhalten sehr genau und beabsichtigte, sich bald für den Jungen einzusetzen und zu bewirken, dass er zurück zu seiner Familie konnte.
    Conor hatte alles getan, um vorzeitig wegen guter Führung entlassen zu werden. Er arbeitete fleißig, meldete sich oft freiwillig zum Putz- oder Gartendienst, er prügelte sich nie, bestahl seine Kameraden nicht und übernahm bei jeder Gelegenheit das Ausmisten des Taubenschlages. Was noch fehlte, war ein Gespräch mit dem Direktor, bei dem er endlich Reue zeigte, seinen Vater zum Invaliden gemacht zu haben.
     
    Sean Lynch war nach drei Wochen aus dem künstlichen Koma geholt worden, lag noch fünf Wochen auf der Intensivstation und weitere acht in der Abteilung für Hirnverletzte. Er konnte seit dem Tag, an dem sein Sohn auf ihn geschossen hatte, nicht mehr sprechen. Sein rechter Armgehorchte ihm kaum noch, sein rechtes Augenlid hing herab, und er erkannte niemanden mehr, auch nicht seine Frau und seine Tochter. Er musste gebadet und gefüttert werden, und wenn er mit der linken Hand ein paar zittrige Striche und krumme Linien, die eine unbeschädigte Kammer seines Hirns für Buchstaben hielt, auf einen Zettel kritzelte, vergingen oft Stunden. Nach drei Monaten wurde er in eine Rehabilitationsklinik im County Cork verlegt, wo er sich so weit erholte, dass ein Wohnheim für Behinderte in Dublin ihn aufnahm. Dort durfte er in der Werkstatt Bilderrahmen schleifen, was er mit versunkener Hingabe tat. Beim ungelenken Hantieren mit dem Schleifpapier lächelte er oft, als erinnere ihn der Geruch des Holzes an etwas Schönes.
    Im ersten halben Jahr besuchte Aislin ihren Mann alle zwei Wochen, und einmal im Monat nahm sie Fiona mit. Das damals vierjährige Mädchen begriff nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Er redete nicht mehr und sah komisch aus, und wenn sie ihm eine Zeichnung hinlegte, betrachtete er das Blatt stumm und so lange, dass sie verlegen wurde. Nach anderthalb Jahren war Sean so weit, in der Möbelwerkstatt arbeiten zu können, erst in der Fertigung, dann an den Maschinen, mit denen das Holz zugesägt wurde. Er lernte langsam zu sprechen, und mit seinem linken Arm war er so geschickt wie früher mit dem rechten. Im Frühling des zweiten Jahres teilte die Leitung des Behindertenwohnheims Aislin mit, die Genesung ihres Mannes sei so weit fortgeschritten, dass er ins normale Leben entlassen werden könne.
    Aber das Zuhause, das in Sean vielleicht etwas wachgerufen hätte, wenn seine Erinnerung nicht von einer glühenden Kugel ausgelöscht worden wäre, gab es nicht mehr. Aislin hatte das Sägewerk und das Wohnhaus verkauft und lebte mit Kieran und Fiona in einem Cottage außerhalb Sligos, von wo es regelmäßige Zugverbindungen nach Dublin gab. Zudem waren es vom neuen Wohnort nur ein paar wenige Kilometer bis Four Towers.
     
    Es war unmöglich zu sagen, ob Kieran und Sean einander erkannten, ob in ihren defekten Gehirnen etwas passierte, das ein vages Gefühl der Vertrautheit auslöste, oder ob sie Fremde füreinander waren. Der Himmel an jenem letzten Tag im April des Jahres 1994 war tiefblau,weiße Wolken trieben darin, bewegt von einem kalten, unregelmäßigen Wind. Mary O’Sea führte die braune Stute, auf der Kieran saß, am Zügel über die Wiese, als Aislins VW-Bus vor dem Cottage hielt. Mary war Aislins beste Freundin und die Mutter von Rosie, die vor langer Zeit im Meer ertrunken war. Marys Mann hatte nach dem Tod der Tochter angefangen zu trinken und war irgendwann nach England gegangen, von wo er Geld schickte und nicht mehr zurückkehrte. Als Aislin Sägewerk und Haus verkaufte und mit den Kindern nach Sligo zog, besuchte Mary die drei regelmäßig, blieb immer öfter über Nacht und

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