Nach Hause schwimmen
und öffneten nicht einmal mehr die Augen, wenn er sie aufhob, um unter ihnen sauberzumachen. Lag er da, eingehüllt in das Gurren und Trippeln und das leise Sirren unter den Flügeln ankommender und wegfliegender Tauben, dann dachte er an seine Mutter und an Fiona und Kieran. Und daran, dass sein Vater, oder das, was von ihm übrig war, wieder bei ihnen lebte. Er rechnete aus, wie viele Tage es bis zum nächsten Besuchstermin noch waren, und fragte sich, ob seine Mutter seinen Wunsch respektieren und seinen Vater nie mitbringen würde. Sie hatte ihm zwar erzählt, dass er niemanden wiedererkenne, dass er sanft wie ein Lamm sei und oft ganze Tage damit verbringe, Ameisen auf einer Fensterbank zu beobachten. Aber so konnte Conor sich seinen Vater nicht vorstellen. Er sah das Bild vor sich, das Mary mit ihrer Kamera gemacht hatte und das Sean Lynch in einem zu großen schwarzen Anzug neben dem Pferd stehend zeigte, aber er traute dem schüchtern wirkenden Lächeln des Mannes nicht. Er malte sich aus, wie er seinem Vater in die Augen sehen würde. Wie in der Hälfte einer Sekunde das kalte Licht der Erinnerung in diesen Augen blitzen und dieses falsche Lächeln verschwinden würde. Er sah, fünfzehn Meter über seinem irdischen Käfig schwebend und von den Lauten friedlicher Vögel getragen, seinen Vater vor sich und keinen anderen, guten Menschen.
Wilbur hatte sich rasch an sein neues Leben gewöhnt. Nach zwei Wochen schierer Verzweiflung hatte er beschlossen, nichts mehr vermissen zu wollen, keine Menschen, keine Empfindungen, keine Dinge, und von da an ging es ihm besser. Er sorgte dafür, dass er beschäftigt war und keine Zeit zum Grübeln hatte. Von halb acht bis zwölf und von halb zwei bis fünf arbeitete er in der Werkstatt und stellte mehr Rattenfallen her als sein Tagessoll verlangte, und nach dem Abendessen und an denSamstagnachmittagen schloss er sich der Gruppe an, die in einem der Kellerräume einen Kraftraum einrichten wollte.
Direktor Moriarty, der sich als Pionier in der Betreuung und Reintegration straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher in Irland sah, hatte schon vor Jahren erwogen, in Four Towers ein Sportprogramm einzuführen, musste seine Pläne jedoch immer wieder wegen fehlender finanzieller Mittel auf Eis legen. Die einzigen körperlichen Ertüchtigungen, die er für seine Schützlinge bisher anordnete, waren zwanzig Minuten Morgengymnastik im Arbeitssaal und an regenfreien Samstagen eine Stunde Freiübungen und Ballspiele auf dem Hof.
Jetzt war etwas Geld vom Staat da, das in die Bereiche Ausbildung, Kultur und Leibesertüchtigung investiert werden musste, und endlich konnte Moriarty seine Vorhaben verwirklichen. Die Traktorenwerkstatt wurde so modernisiert, dass die Burschen, die dort arbeiteten, eine richtige Ausbildung erhielten. In den nächsten Jahren sollten auch die übrigen Bereiche angepasst werden. Die Herstellung von Nagetierfallen für den lokalen Markt konnte man als Notlösung, vielleicht noch als Einarbeitungsprogramm für Neuankömmlinge verstehen, für zukunftstauglich hielt Moriarty diese Art schlecht bezahlter Beschäftigungstherapie jedoch nicht.
Die Bibliothek, die sich vorher in einem dürftig beheizten Zimmer im Erdgeschoss befunden hatte, wurde in die erste Etage neben den Speisesaal verlegt, einen Raum, in den sich die Jungen bisher zurückziehen konnten, um Briefe zu schreiben, zu lesen, Schach zu spielen oder sonst etwas zu tun, das keinen Lärm machte. Moriarty nannte ihn den Raum der Stille, für die Jungen war es die Kammer des fünften Turms oder einfach der Wichsraum. Um den Burschen beim Schreiben ihrer Briefe etwas Privatsphäre zu geben, hatte Moriarty sie in der Werkstatt Paravents aus Holz und Stoff bauen lassen, die jeden der dreißig Tische vor neugierigen Blicken abschirmte. Dass sich die von ihren Hormonen malträtierten Schützlinge hinter diesen Wänden Erleichterung verschafften, ahnte Moriarty nicht, und als er im Zuge der Umbauten die Entfernung der Paravents anordnete, löste das einen Proteststurm aus. Gleichzeitig verwundert und erfreut darüber, wie wichtig seinen Schützlingen ihre Momente der Stille und Einkehr waren, bewahrte erdie Faltwände vor der Vernichtung und die Jungen davor, ihre aus Sexheften und Unterwäschekatalogen ausgeschnittenen Bildchen wieder in den Toilettenräumen ausbreiten zu müssen, deren kalte Fliesen jedes Schnaufen und jedes Wimmern schallend zurückwarfen.
Dank der staatlichen Zuschüsse erhielt
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