Nach Hause schwimmen
verantwortlich war. Seit jenem Tag vor sieben Jahren plagten ihn Albträume, aber die Bilder, die ihn nachts schweißnass aufschrecken ließen, zeigten nicht seinen von der Kugel niedergeschossenen Vater, sondern eine regennasse Landstraße, ein zuckendes, sterbendes Pferd und Orla, die über die himmelblaue Wellen werfende Kühlerhaube gebreitet dalag, ihm in die Augen sah und mit den Lippen ein blutiges Wort formte, das er nicht erriet.
Die Einzelheiten des Unfalls hatte er von einem der Polizisten, die ihn verhörten, den Rest aus der Zeitung. Monatelang hatte er einen Artikel mit sich herumgetragen, bis das Papier, wo es gefaltet war, riss und er es kleben musste. Die Schwärze der Schrift hatte sich in feinen Staub aufgelöst, die Buchstaben verblassten und verschwanden teilweise, das Papier wurde weich und dünn und zerfiel an den Rändern. Das Klebeband vergilbte, wurde spröde, bekam Risse und brach. Irgendwann nahm Conor den Ausschnitt aus der Hosentasche und bewahrte ihn in seiner Reisetasche auf. Eines Tages verbrannte er ihn im Taubenschlag, kratzte die Asche zusammen und warf sie vom Turm in den Wind. Doch das Ritual blieb ohne Wirkung, die Träume verschwanden nicht und auch nicht die allabendliche Angst vor ihnen.
Lange Zeit hatte Conor gehofft, Wilbur könnte ihm vergeben und die schlimmen Träume würden seltener werden und irgendwann ganz ausbleiben. Er hätte aus dem Dunkel seiner Wände treten, wieder mit Menschen reden und als ein Mensch leben können, statt zu schweigen und törichte Worte an Tauben zu verschwenden. Er hätte die Umarmung seiner Mutter zugelassen und den Kuss seiner Schwester, und er hätte ihnen vielleicht endlich erlaubt, von seinem Vater und Kieran zu erzählen, davon, wie die beiden abwechselnd auf dem Pferd ritten und in der Sommerhitze im nahen See planschten. Aber sosehr er sich eine Aussöhnung mit seinem alten Freund auch wünschte, so gut verstand er doch, warum Wilbur ihm diese Absolution verweigerte. Den Erlass der Sünden gab es im Beichtstuhl, aber im wahren Leben büßte man bis zuletzt für seine Taten.
Conor erwartete keine Erlösung mehr, keine helleren Tage und keinGlück. Er hatte bis jetzt nicht den Mut gehabt, seine Mutter zu bitten, ihn nicht mehr zu besuchen, aber er würde es bald tun. Er war müde und gleichgültig gegenüber seinem Schicksal. Er wollte nicht mehr reden und nicht mehr jeden ersten Sonntag im Monat seine ganze Kraft aufwenden, um Aislin und Fiona einen behutsam ins Licht zurückkehrenden Sohn und Bruder vorzuspielen, der irgendwann wieder ein Leben haben würde.
In der Bibliothek, wo er hinging, wenn Wilbur nicht da war, hatte er ein Buch über Meditation gefunden. Jetzt lag er manchmal nachts in seinem Bett und ließ sich in einen Zustand gleiten, der kein Denken war und kein Empfinden und auch kein Schlaf, sondern das, was er für die Lage seines Vaters hielt. Es war ein tiefes, lichtloses Meer, ein großer Fluss, in dem Bilder trieben, sich wälzten und für Sekunden ihre schimmernden Seiten zeigten wie Fische ihre Bäuche. Es war ein Fallen und Schweben, ein ständiges Entgleiten. Es war ein dumpfes Ahnen, weit weg vom Erinnern. Es wurde ein Versinken, ein Ausruhen, ein halber Tod.
Wilbur war nicht der einzige Nachtwandler. Wenn der Wachmann seine Außenrunde machte, begegneten sich die schlaflosen Jungen auf den Fluren wie Mönche im Kloster. Im Sommer war vielen die Luft im Schlafsaal zu stickig, im Winter flohen sie vor dem Husten der Bettnachbarn. Manche suchten eine stille Ecke zum Rauchen, andere wollten für eine Weile ihre Ruhe. Die Movie Men schlenderten seelenruhig über die Gänge, Neulinge huschten ängstlich umher. Niemand redete oder machte Lärm, niemand stahl oder beschädigte etwas und gefährdete damit den nächtlichen Freiraum. Wer es dennoch tat, bekam es mit der Gang zu tun, die jeden neu Angekommenen über die Regeln aufklärte. Am Tag waren alle hier Gefangene, nachts konnte jeder, der wollte, eine Weile frei sein, solange er sich an die geheimen Gesetze hielt.
Der halbe Liter Pocheen, billiger Kartoffelschnaps aus einer Schwarzbrennerei, hatte Wilbur ein Vermögen gekostet. Der Fusel war, auf zwei Plastikdosen verteilt, in Ersatzteilen für Traktoren eingeschmuggelt worden. Callum Gallagher, dessen kriminelles Potential in Four Towers erst richtig zur Entfaltung kam, hatte seinem Kunden die Hälfte des Geldes als Anzahlung abgenommen und den Rest bei Lieferung. Dann hatteer ihm anschaulich erklärt,
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