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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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kümmern wird.« Er zog ein Blatt aus der Akte und warf einen Blick darauf. »Miss Agnes Ferguson. Sagt dir der Name etwas?«
    Wilbur war zu überrumpelt, um einen Ton hervorzubringen. Natürlich erinnerte er sich an seine ehemalige Lehrerin. Einen Monat nachdem er auf die neue Schule gewechselt war, hatte sie ihn bei den Conways besucht, um zu sehen, wie es ihrem Lieblingsschüler ging, dem Wunderkind, dessen Zukunft sie in so leuchtenden Farben gezeichnet hatte. Pauline hatte Kaffee gekocht und Kuchen gebacken, und Wilbur hatte auf dem Cello gespielt. Er erinnerte sich daran, dass Miss Ferguson ihm Broschüren englischer Eliteuniversitäten mitgebracht und beim Abschied fast geweint hatte.
    »Sie war deine Grundschullehrerin und ist jetzt pensioniert«, sagte Moriarty. Er wartete noch immer auf eine Reaktion von Wilbur. »Sie war in England bei ihrer Schwester und hat erst kürzlich erfahren ...« Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, sah eine Weile nachdenklich hinein und schloss sie wieder, ohne ihr etwas zu entnehmen. »... wie es dir ergangen ist in letzter Zeit.«
    »Sie weiß, dass ich hier bin?« Wilburs Hirn arbeitete auf Hochtouren, um die möglichen Folgen eines Zusammenlebens mit Miss Ferguson abzuschätzen. Gleichzeitig forderte ihn eine innere Stimme lauthals auf, Moriarty die Geldscheine, die, mit Papier umwickelt, in seinen Schuhen lagen, zu zeigen, die nach Schweiß und Leder riechenden Scheine auf den Tisch zu knallen und ihn über die wahren Zustände in Four Towers aufzuklären. Immer dröhnender befahl ihm die Stimme, sich als einen der Schlimmsten darzustellen, als Unscheinbaren, der dank seiner Intelligenz die Lücken des Systems erkannt hatte und zu nutzen wusste. Die Wahrheit würde den naiven, von Gleichheit und Gerechtigkeit träumenden Menschenfreund so treffen, dass er für keinen der Jungen mehr ein gutes Wort einlegen, für keinen je wieder eine vorzeitige Entlassung beantragen würde.
    »Oh ja, selbstverständlich ist sie über deinen momentanen Aufenthaltsort im Bilde.« Moriarty grinste kurz und klappte die Akte zu. »Siehat mich vor ein paar Tagen angerufen und gestern zu Hause besucht. Eine äußerst nette und kultivierte Dame, muss ich sagen. Sehr rüstig für ihr Alter. Ich bin sicher, sie wird es mit dir aufnehmen können.« Er erhob sich und ging ohne den Stock zum Bücherregal, um ein gekipptes Buch aufzurichten. »Bis zu deinem achtzehnten Geburtstag dauert es ja sowieso nicht mehr sehr lange, nicht wahr?«
    »Nein, Sir.« Wilbur sah sich in einem Bett mit geblümter Wäsche liegen. Er sah Miss Ferguson, die ihm Kekse und einen Becher heißer Milch brachte. Er hörte, wie sie ihn nach der Hauptstadt der Mongolei fragte und der Dauer des Zweiten Punischen Krieges. Am neunzehnten März nächsten Jahres würde er volljährig sein. Am selben Tag würde Bruce Willis seinen dreiundvierzigsten Geburtstag feiern. Er sah sich blutend am Boden liegen, zusammengeschlagen von der Gang als Rache für seinen Verrat, der vielleicht nicht einmal seine Auslieferung an Miss Ferguson verhindern konnte. Er wollte Moriarty alles erzählen, aber er tat es nicht.
    »Dann wäre, denke ich, so weit alles geklärt«, sagte Moriarty. Er nahm seinen Stock, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.
    Wilbur erhob sich.
    »Sobald es Neuigkeiten gibt, werde ich dich darüber in Kenntnis setzen.« Moriarty öffnete die Tür und klopfte Wilbur, der den kalten Flur betrat, auf den Rücken. »Und übertreib es nicht mit dem Gewichteheben.«
    »Nein, Sir«, sagte Wilbur. »Danke, Sir.« Er drehte sich nicht mehr um, ging den Flur hinunter und um die Ecke und an O’Carroll vorbei, der mit einer Tasse Kaffee aus dem Raum der Wachmänner kam und ihm nachrief, er solle gefälligst grüßen. Wenig später betrat er die Bibliothek, wo Jack Connolly für ihn eingesprungen war, setzte sich an einen der hintersten Tische und dachte im Schutz des Paravents darüber nach, wie er seinen Aufenthalt in Four Towers verlängern konnte.
     
    Conor hatte es nach ein paar erfolglosen Versuchen aufgegeben, mit Wilbur zu reden und ihn für das, was geschehen war, um Verzeihung zu bitten. Es tat weh, seinen ehemaligen Freund jeden Tag zu sehen und nicht mit ihm sprechen zu können. Obwohl er den Polizisten, dem Psychologenoder Moriarty gegenüber nie Reue über seine Tat gezeigt hatte, zerriss es ihm das Herz beim Gedanken, dass er, wenn vielleicht auch nur indirekt, für Orlas Tod und Wilburs Unglück

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