Nach Hause schwimmen
Foley.
»Seinetwegen verpasse ich meine Lieblingssendung«, sagte Miss Rodnick.
Wilbur hörte, wie Wasser aus dem Krug ins Glas floss.
»Was für eine Sendung ist das denn, wenn man fragen darf?«
»Beschwingt in den Abend.«
»Kenn ich nicht. Dabei seh ich eine Menge fern.«
»Ich rede von einer Radiosendung. Und jetzt sollten wir uns um diesen Flegel hier kümmern.«
Wilbur spürte, wie Miss Rodnick ihm mit der Handfläche ein paar Mal leicht auf die Wange schlug. »Aufwachen, junger Mann!«
Foley rüttelte ihn am Arm. »Stell dich nicht tot, Sandberg! Wir haben heute noch was anderes vor als Krankenbesuche!«
Wilbur öffnete die Augen einen Spalt weit. Das harte Licht sickerte in seinen Kopf und benetzte darin Stellen mit dumpfem Schmerz. Miss Rodnick, verärgert, stand links, Foley rechts von ihm, bekümmert und hungrig. Wilbur schloss die Augen. Foley stieß ihn leicht gegen die Schulter.
»Hast du nicht gesagt, du hast keine Streichhölzer dabei?«
»Schluck die Tablette«, sagte Miss Rodnick.
Wilbur öffnete die Augen ein wenig, nahm die Tablette aus Miss Rodnicks Hand, schob sie zwischen die Lippen und trank das Wasserglas leer.
»Angenehme Träume«, sagte Foley.
»Wenn ich mich beeile, höre ich noch den Schluss.«
»Ich bring Sie zum Wagen.«
Das Licht ging aus, die Tür wurde geschlossen und abgesperrt, Schritte und Stimmen entfernten sich. Wilbur setzte sich auf und spuckte die Tablette an die gegenüberliegende Wand.
O’Carroll kannte diese Geräusche. Er wusste, was passierte, und Teil seiner Arbeit wäre gewesen, es zu beenden. Aber er stand da und wartete. Er hatte das Feuer in der Bibliothek auch gesehen und es erst für das flackernde Licht des Fernsehers gehalten, gedacht, die Jungs hätten vergessen, die Paravents so um die Kiste zu stellen, dass das Leuchten des Fernsehers durch die Fenster nicht zu sehen war. Nicht einmal Cormack,der Streber, hatte das nächtliche Treiben der Movie Men bisher entdeckt. Dann hatte O’Carroll genauer hingesehen und die Flammen erkannt. Er war beinahe die Leiter hinuntergefallen, aber da schrillte schon der Alarm. Weil er ein verdächtiges Fahrzeug nicht aus den Augen gelassen hatte, ein Motorrad, das an der Kreuzung langsamer wurde und dann in Richtung Osten verschwand, hatte er das Feuer zu spät bemerkt. Weil er seinen verdammten Dienst getan hatte und das Feuer in seinem Rücken brannte, wo er verflucht noch mal keine Augen hatte.
Eine halbe Minute. Dreißig Sekunden trennten ihn davon, sich im Lob des Direktors zu sonnen. Er säße jetzt im Büro von Moriarty, der wegen des Brandes um zwei Uhr morgens aus dem Bett geklingelt worden und gleich hergefahren war. Er, Alan O’Carroll, wäre der Held der Stunde, nicht Cormack, nicht schon wieder dieser beschissene Musterknabe. Mack mit seinen weibischen Händen, die Puppenhäuser bauten und eine fette Katze streichelten.
O’Carroll ballte die Fäuste. Irgendwann würde er im dunklen Flur von Cormacks Haus warten und diesem elenden Streber eine Tracht Prügel verpassen.
Die Geräusche verstummten. Etwas sackte zu Boden. O’Carroll trat aus dem Schatten und schlenderte um die Ecke. Callum Gallagher und zwei seiner Kumpane sahen ihn ruhig an. Gallagher legte den rechten Zeigefinger an die Lippen und grinste. O’Carroll nickte kühl. Das Trio verschwand in Richtung der Schlafräume. Es war kurz vor vier Uhr morgens. O’Carroll sah sich den Burschen an, den die Gang in die Mangel genommen, für irgendetwas bestraft hatte. Das Gesicht des Jungen wies keinen Kratzer auf, sah man von der geschwollenen Lippe ab. Er lag gekrümmt da, beide Hände in den Magen gepresst, wohin die drei Hüter des Gesetzes ihn geschlagen und getreten hatten.
O’Carroll nahm die Mütze ab wie vor einer Leiche und setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Mauer. Er dachte an seine Kindheit und daran, wie oft er zusammengeschlagen worden war. Er kam auf keine Zahl, es gab keine Summe. Im Nachhinein war es immer viel weniger, weil er sich nicht erinnern wollte an jedes einzelne Mal. Weil er das Brennen nicht mehr spüren wollte, wo seine Haut jahrelang blau gewesen war. Weil er den Biergestank nicht riechen und das Heulenseiner Mutter nicht hören wollte. Weil die Bilder und die Gerüche und das Brennen verschwinden würden, wenn er einfach nicht mehr daran dächte.
O’Carroll strich sich mit dem Finger über die Narbe, dreimal, das brachte Glück. Er kannte den Jungen, der vor ihm am Boden lag wie ein
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