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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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war, und dennoch lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit.
     
    Eamon hatte nichts von dem Stew gegessen, das seine Frau für ihn auf den Herd gestellt hatte. Wie jeden Tag war er nach dem Mittagstee zu Fuß die zweieinhalb Kilometer über sein Land bis zur Kirche gegangen, die wie eine dunkle Festung am Rand der mit farblosem Gras bewachsenenKlippe stand. Eamons Kirche war ein umgedrehter Kahn aus grauem Stein, kieloben in einem Meer aus windbewegten Halmen treibend, ein Bau ohne Fenster und Turm. Ein gekentertes Schiff, riesig und düster über dem Tosen der Brandung aufragend, erbaut von Männern, die wütend und ratlos davongelaufen waren, als er ihnen am Ende sogar eine Tür verweigert hatte. Eamons Kirche war eine Opfergabe an Gott, Sühnewerk einer verlorenen Seele, Grabmal eines Lebenden.
    Dort, wo die Treppenstufen aufhörten, lag brackiges Wasser. Eamon ging gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, in der Haltung eines reuigen Sünders durch den Tunnel, dessen Wände und Decke aus grobem, mit Moos überzogenem Stein waren. Im finsteren Bauch des Gewölbes richtete er sich ein wenig auf, blieb in der Stille seines Atems stehen und wartete, stand da und wartete, dass Gott zu ihm sprach.
     
    Eamon hatte sich in den langen Nächten, die still waren bis auf das Rauschen des Meeres und das gelegentliche Blöken von Schafen, einen Plan zurechtgelegt. Den ersten Schritt dieses Plans führte er aus, als er achtzehn Jahre alt wurde. Am Abend seines Geburtstags, an dem es als Geschenk eine Mütze aus Tweed und zum Essen für einmal Rind statt Schaf gab, sagte er seinen Eltern, er fahre mit dem nächsten Schiff nach Amerika. Die Mutter weinte, der Vater schwieg erst und trank noch mehr von dem Festtagswhiskey, der ihn einen guten Bock gekostet hatte. Als seine Zunge leicht wurde, verfluchte er das Land hinter dem Atlantik und die Flausen seines Sohns, als sie ihm schwer im Mund lag, nuschelte er von den Gefahren einer Schiffspassage und der Unsinkbarkeit irischer Hügel. Schließlich war er so betrunken, dass er bettelte, Eamon möge bleiben, nur um ihm wenig später laut brüllend eine gute Reise zu wünschen.
    Eamon wartete nicht, bis sein Vater wieder nüchtern war. Er hielt seine Mutter lange im Arm und versprach, in einem Jahr zurückzukommen, holte das vor Tagen geschnürte Bündel aus dem Versteck in der alten, eingestürzten Scheune, die ungenutzt weit weg vom Haus hinter einer Baumgruppe stand, und machte sich auf den Weg nach Belfast. Dort wartete er mehr als fünf Wochen auf ein Schiff, das ihn in die Neue Welt brachte. Die Überfahrt bezahlte er mit ein paar der Goldmünzen, die erin den Schuhen bei sich trug und die ihm bei jedem Schritt versicherten, noch da zu sein.
     
    In New York City wollte Eamon dann doch nicht mehr auf den Wolkenkratzern arbeiten. Alleine der Anblick ließ ihn schwindlig werden, und alles, wozu er sich überwinden konnte, war eine Fahrt im Aufzug und ein kurzer, ehrfürchtiger Blick von der Aussichtsplattform des Singer Building. Nach ein paar Tagen in der Stadt, die ihm mit ihrer Größe und dem Lärm und den vielen Menschen, Pferdefuhrwerken und Automobilen Angst einjagte, machte er sich per Eisenbahn, Postkutsche, Pferdekarren, Maultier und zu Fuß auf den Weg nach Colorado, kaufte ein Zelt, Lebensmittel, eine Schaufel und was man zum Überleben in der Wildnis braucht, suchte sich einen gottverlassenen Ort an einem namenlosen Seitenarm des mächtigen Flusses, hockte im Zelt, erkundete die nahe Umgebung und angelte.
    Dreiundzwanzig Tage blieb er, fing Forellen, glaubte Wölfe zu hören und von Weitem Bären zu sehen, zählte nachts die Sterne und sang leise die Lieder, die er kannte. Jeden Tag holte er ein paar Goldstücke aus dem Lederkoffer, den er einem Italiener in Brooklyn abgekauft hatte, legte sie zwischen die Steine in den Fluss, hob sie auf, trocknete sie ab und steckte sie in einen Beutel. Das wiederholte er so oft, bis er tatsächlich glaubte, die Nuggets im klaren kalten Wasser gefunden zu haben.
    Am Morgen des dreiundzwanzigsten Tages machte er sich, abgemagert, schmutzig und übersät mit Mückenstichen, auf den Rückweg nach New York. Er mietete sich in einem der besten Hotels eine Suite und engagierte einen arbeitslosen Lehrer aus Edinburgh, der ihm innerhalb von drei Monaten das Lesen und Schreiben beibrachte. Wie man sich kleidete, bei Tisch benahm und mit gebildeten Menschen unterhielt, lehrte ihn ein verarmter englischer Lord,

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