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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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hatten, die Männer, die er hasste und für die er betete, während sie im Mondlicht davonfuhren in den Tod.
     
    Erst nach einer Weile traute Eamon sich zurück zu dem Mann, den er beraubt hatte und der ihn manchmal, für eine schreckliche Sekunde nur, ansah, als wisse er alles. Dann setzte er sich in eine Ecke und dachte darüber nach, was wäre, wenn der Matrose sich erholen und seinen Schatz einfordern würde, wenn er Eamon als Dieb anklagen undseinen greifbar nahen Traum von Amerika zerstören würde. Um sich zu beruhigen, redete Eamon sich ein, der Fremde habe nicht nur sein Schiff, sondern auch das Gedächtnis verloren, möglicherweise den Verstand. Vielleicht wusste er nichts mehr von einer Truhe und wäre beim Anblick des Schlüssels ebenso ratlos wie Eamons Eltern.
    Um nicht verrückt zu werden vor Angst und schlechtem Gewissen, beschloss Eamon in der zweiten Nacht, dass das Häufchen Elend, das unter Paudraigs Decke stöhnte und schlotterte, keine Bedrohung darstellte. Selbst wenn der Matrose genesen und sich an alles erinnern würde, bliebe die Kiste verschwunden. Er würde es kaum wagen, das Gold zu erwähnen, und einfach seiner Wege gehen. Irgendwo fände sich ein Schiff, das eine Besatzung brauchte. Dass der Seemann versuchen könnte, sein Gold mit Gewalt zurückzuholen, schien unwahrscheinlich, denn immerhin war es Eamon, der wusste, wo der Revolver und die Munition lagen.
    Das dachte er, während er in der Ecke saß und auf seine dreckigen Schuhe starrte, weil er dem Blick des Matrosen kein weiteres Mal begegnen wollte. Und an seinen Bruder dachte er, der als Soldat in einem irischen Bataillon für die englische Königin im Sold stand und der in jener Nacht nicht zugelassen hätte, dass Eamon tat, was er getan hatte.
     
    Orla hatte aufgehört, sich zu drehen, und sah jetzt auf das Meer hinaus. Wilburs Rücken gegen ihre Brust gepresst und ihn mit beiden Armen umfassend und wärmend, stand sie da und summte vor sich hin, mit dem Rauschen der Brandung und nicht gegen sie. Manchmal fragte sie sich, welche Richtung ihr Leben wohl genommen hätte, wenn sie und ihre Schwester damals nicht nach Dublin gefahren wären, um den St. Patrick’s Day einmal woanders zu feiern als in Galway. Wenn sie diesen großen, gutaussehenden Burschen nicht getroffen hätte, über den die Zeitungen in Irland berichteten und der sie wie selbstverständlich am Arm genommen und durch die Menschenmenge auf den Platz geführt hatte, wo getanzt worden war. Wo sie jetzt wohl leben würde und mit wem, hätte sie sich nicht in diesen Mann verliebt, der sie an diesem von Musik und Lachen erfüllten Tag so gefangen nahm, dass sie Deirdre vergaß und sich erst Stunden später an sie erinnerte. Mit seiner Hilfe hatte sie die kleine Schwester auf einer Parkbank wiedergefunden, undsie hatten sich umarmt und geweint und später gelacht, waren singend durch die Nacht geschlendert, zwei Schönheiten aus Galway und der Mann, der in Amerika sein Glück gemacht hatte.
     
    Als der Wind auffrischte und es zu kalt wurde, um draußen zu bleiben, ging Orla zurück ins Haus. Ihr Mann saß im Wohnzimmer vor einem Feuer und las zum zweiten Mal an diesem Tag die Zeitung, diesmal von hinten nach vorne. Obwohl er es bereits am Morgen getan hatte, las er jeden Artikel und jede noch so kleine Meldung erneut, als könnte er etwas übersehen haben oder suche nach versteckten Botschaften, Meldungen, die endlich einen Sinn ergaben. Dabei machte er sich nicht viel aus der Welt, Sport interessierte ihn nicht, und den Wirtschaftsteil verabscheute er aus tiefstem Herzen.
    Das Ritual der zweiten Lektüre war während Eamons Jahren in Amerika entstanden, als er, fast schon zwanzig, das Lesen erlernte. Früher hatte Orla darin eine seltsame Angewohnheit gesehen, später nannte sie es Tick, dann Macke. Jetzt war es ihr zu gleichgültig geworden, als dass sie sich gefragt hätte, ob ihr Mann jeden Tag einem Zwang nachgab oder allmählich verrückt wurde.
     
    Der Matrose hatte mit Gesten um Papier und Stift gebeten und geschrieben, ein paar Zeilen nur, hingekritzelt in einer ungelenken Schrift. Drei Tage lang brachte er jeweils am Nachmittag ein paar Sätze auf das grobe Papier, oft nach jedem Wort von einem Hustenanfall unterbrochen und immer nach zwei oder drei Zeilen so erschöpft, dass er, den Bleistiftstummel umklammert, wegsackte in einen Zustand, der weder Schlaf noch Ohnmacht war.
    Am dritten Tag, während Eamon, der vor dem Keuchen und Wispern geflohen war, am

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