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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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augenblicklich umzudrehen und wegzurennen.
    Nach einer Minute, die ihm länger vorgekommen war und während der er mit lauem Gefühl an die Begegnung mit der Wahrsagerin auf dem Rummelplatz von Kindrum gedacht hatte, öffnete eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm die Tür. Sie war sehr dick und sah eher aus wie vierzig als zwanzig, und sie musterte Wilbur aus geröteten, halboffenen Augen.
    »Ja?«
    Wilbur sah das Baby an. Es lutschte an einem Hühnerknochen, der größer war als der größte Knochen in seinem kleinen, bis auf eine gigantische Windel nackten Körper. Der speckige, haarlose Zwerg hielt den Knochen mit der einen Hand fest, die andere hatte sich in die fleischige Brust seiner Mutter verkrallt. Er glotzte Wilbur mit einer dreisten Blödigkeit an und wackelte dabei mit den Zehen.
    »Wahrsagen«, brachte Wilbur schließlich heraus.
    Die Frau drehte sich um. »Carrie!« rief sie in die erleuchtete Leere hinter sich und wandte sich dann wieder Wilbur zu. »Moment.«
    Wilbur lächelte. Dass diese Frau offenbar nicht die Wahrsagerin war, erleichterte ihn ein wenig. Der Zwerg zeigte mit dem Knochen auf ihn und gab ein paar Laute von sich, die Wilbur als Verwünschungen deutete.
    »Was?« tönte von irgendwoher eine Mädchenstimme.
    Die Frau drehte sich erneut um. »Kundschaft für Großmutter!« Eine Tür knallte. Die Frau trat zur Seite und nickte Wilbur herein. »Warten Sie hier«, sagte sie, schloss die Wohnungstür und verschwand in einem der angrenzenden Räume. Der Zwerg sah über ihre Schulter und hieltden Knochen wie einen Zauberstab in Wilburs Richtung, ein winziger fetter Magier, geheime Formeln lallend.
    Wilbur dachte ans Gehen, wartete eine Sekunde zu lange und sah, wie eine etwa sechzigjährige Frau aus der gegenüberliegenden Tür trat. Sie war groß und korpulent und trug ein weites dunkelblaues Kleid ohne Ärmel und einen breiten, mit Strass besetzten Gürtel. Ihr graues Haar war mit einem schwarzen Stoffband aus der Stirn geschoben und zu einem Knoten geflochten, die Farbe ihrer Lippen deutete Wilbur als Aubergine, beinahe Schwarz.
    »Guten Abend«, sagte sie und breitete die mit Reifen behangenen Arme aus. »Sie wollen einen Blick in die Zukunft werfen?« Die Frage, theatralisch gefärbt, klang einstudiert.
    Wilbur nickte. Er hatte den Duft von gegrilltem Huhn in der Nase, von Knoblauch und etwas Süßem, Schokolade oder Karamell, und er hörte Stimmen und das Klappern von Tellern und Besteck. Die Gerüche und Geräusche vervielfachten sich, als eine der Türen aufging und der Kopf der dicken Mutter auftauchte. »Essen ist fertig!« rief die Frau und verschwand wieder.
    Die Wahrsagerin sah Wilbur an. »Sie sind hungrig«, sagte sie in bestimmtem Ton, und es klang wie ihre erste hellseherische Feststellung. »Kommen Sie.« Sie machte einen Schritt auf die Tür zu, hinter der sich die Küche oder das Esszimmer zu befinden schien, und winkte Wilbur zu sich.
    Wilbur blieb stehen, lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, ich ... danke«, sagte er.
    »Nur einen Happen. Danach widmen wir uns Ihrem Schicksal.«
    Wilbur sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. Wer um alles in der Welt aß um diese Zeit zu Abend? Er schüttelte abermals den Kopf und wich einen Schritt zurück, als die Frau auf ihn zukam und ihn am Arm fasste. »Einen kleinen Bissen.«
    »Nein, wirklich.« Wilbur wollte sich umdrehen und gehen, weg von diesen seltsamen Menschen und überwältigenden Düften und hinaus in die nach Regen und Benzin und U-Bahn-Schächten riechende Kälte, aber plötzlich strömten aus zwei verschiedenen Türen ein Mädchen und zwei Jungen und trieben ihn in die metallisch klimpernden Arme der Hellseherin,die ihn anstrahlte und in einen Raum schob, den Ursprungs ort allen Geklirrs und Schepperns und aller Gerüche.
    Die Wahrsagerin stellte sich hinter Wilbur und fasste ihn an den Schultern. »Seht mal alle her! Der junge Mann hier ist ...« Sie beugte den Kopf nach vorn und sah Wilbur an.
    »Wilbur«, sagte Wilbur so leise, dass es im Zischen der Fleischstücke auf dem Herd unterging.
    »Wilbur«, wiederholte die Wahrsagerin laut und schubste ihren Gast auf einen der vielen Stühle, die um einen riesigen Holztisch standen. »Er isst mit uns.«
    Freundliches Gemurmel schlug Wilbur entgegen, ansonsten machte niemand viel Aufhebens um seine Anwesenheit. Sein Wasserglas wurde gefüllt, eine Scheibe Brot lag plötzlich auf seinem Teller, und das Mädchen, das eine Runde um den Tisch machte, übergab ihm eine

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