Nach Hause schwimmen
nahm seine Hand. Als plötzlich der Kühlschrank summte, zuckte sie zusammen und ließ Wilburs Hand los. Vor dem Fenster flog eine Taube vorbei. Es regnete noch immer.
»Vielleicht hat es mit dem Trinken zu tun, vielleicht ist er irgendwann gestürzt. Ich weiß es nicht. Eines Tages lag er so im Bett.« Nathalie kratzte mit dem Fingernagel etwas vom Tischblatt, abwesend und gründlich.
»War er bei einem Arzt? Oder war ein Arzt hier?« fragte Alice. Nathalie schaute hoch, als habe sie die Frage nicht verstanden, aber dann schüttelte sie den Kopf. »Meine Mutter hasst Ärzte.«
»Er wurde nie untersucht?« Alice nahm einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl und setzte sich hin. Sie sah Nathalie an, die den Blick senkte und sich auf einen weiteren eingetrockneten Fleck konzentrierte. »Woher wollen Sie dann wissen, dass es ein Schlaganfall war?«
»Schlaganfall oder Sturz, was spielt das für eine Rolle?« sagte Wilbur müde und emotionsloser, als er beabsichtigt hatte. »Er hat sich in diesen Zustand gesoffen.« Alice sah ihn an, aber er wandte den Blick ab.
Eine Weile war es bis auf das Summen des Kühlschranks und das schabende Geräusch von Nathalies Fingernagel still in der Küche.
»Er muss in ärztliche Behandlung«, sagte Alice irgendwann.
»Meine Mutter kann sich jedenfalls nicht mehr um ihn kümmern.« Nathalie nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie mit einem Wegwerffeuerzeug an.
»Wo ist sie?«
»Sie schläft.« Nathalie senkte die Stimme, ein Reflex. »Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben.« Sie lächelte Alice an, dann wurde ihr Blick leer. »Ich schütte es ihr in den Orangensaft. Ich betäube meine Mutter regelmäßig. Damit ich hier aufräumen kann, ohne ...« Sie nahm einen Zug und blies den Rauch zur Seite. »Sie glaubt, er wird wieder gesund. Aber das wird er nicht.« Mit der gleichen entrückten Hingabe, mit der sie die Flecken von der Tischfläche gekratzt hatte, zerdrückte sie jetzt mit der Zigarettenspitze die erkalteten Ascheröllchen auf dem Unterteller. »Sie schafft das nicht mehr«, sagte sie, und leiser: »Sie ist selber krank.«
»Sie ist Alkoholikerin«, sagte Alice sachlich. Nathalie sah sie an, und es war schwer zu sagen, ob sie diese Direktheit schockierte oder erleichterte. »Ich hab einen Blick dafür. Ich war selber eine.« Jetzt war es Alice, die lächelte, ein kurzes, bekümmertes Lächeln.
Wilbur drehte sich um und ging aus der Küche. Eine Weile stand er im Flur und sah zu der Tür, hinter der sein Vater lag. Was von seinem Vater übrig war. Dann verließ er die Wohnung, rannte das Treppenhaus hinunter und hinaus auf die Straße, in den Regen und die Kälte.
Den restlichen Morgen und den ganzen Nachmittag lief Wilbur durch die Straßen der Bronx. Am Abend setzte er sich in eine U-Bahn nach Brooklyn und dann in eine Bar. Er trank obszön farbige Cocktails, die Waikiki Dream und Crazy Coco hießen und in denen Trinkhalme mit dreifachen Loopings und Sonnenschirmchen steckten, und fragte sich, wie viel Wodka und Rum mit Fruchtsaft er wohl in sich hineinschütten müsste, um seinem Vater im Dämmerland der Sprachlosigkeit und des befreienden Vergessens Gesellschaft leisten zu können. Irgendwann nach Mitternacht sank Wilbur vom Barhocker und richtete sich auf dem Fußboden ein. Der Geschäftsführer bat ihn zu gehen, wofür Wilbur ihm dermaßen überschwenglich dankte, dass er vom Barkeeper und einem Kellner, die Überdruss und Mitleid verkörperten, vor die Tür befördert wurde.
Zu Hause legte er sich angezogen ins Bett. Er war nicht mehr betrunken und noch nicht nüchtern und wünschte sich nichts sehnlicher als Schlaf. Seine Haare waren feucht vom Regen, der immer wieder in Schnee übergegangen war, nasse, unförmige Flocken, die, von den Straßenlampen angestrahlt, zu Boden sanken wie Fischfutter in einem Aquarium. Als Alice sich auf die Bettkante setzte, glaubte er zu träumen, aber dann sagte sie etwas, das er nicht verstand, und strich ihm sanft über den Kopf. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn, und er legte den Arm um sie und zog sie zu sich heran. Er küsste sie auf die Wange und auf den Mund, und für einen Moment öffnete sie die Lippen und ihre Zungenspitzen berührten sich. Er fuhr über ihren nackten Arm und berührte ihre kleine, feste Brust unter dem Nachthemd. Sie atmete in seinen Mund, ein Stöhnen, ein Seufzen, ein leiser Satz mit einem Nein darin. Wilbur atmete schwer und wollte etwas sagen, aber Alice legte
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