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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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überschwemmte die Familie wie eine Sintflut ausgetrockneten Boden. Aislin verachtete ihn dafür, nahm sein Auftauchen aus wochenlangem Selbstmitleid und trotziger Schwermut aber dennoch dankbar an, voller Sehnsucht nach seinen unbeholfenen Gesten der Zärtlichkeit.
    Für Fiona war der Fremde während dieser sonderbaren Tage eine Märchengestalt, eine verwandelte Kröte, der Weihnachtsmann mitten im Sommer, ein zum Leben erwachter Spielzeugroboter, der in hastiger Sanftheit sprach und Geschenke hervorzauberte, der ihren kleinen Körper drückte und ihre Wangen mit Küssen bedeckte, überhitzt vor Zuneigung und täuschend echt. Zu glauben, dass dieser Mann ihr Vater war, weigerte sie sich dennoch hartnäckig, genau wissend, dass er aus ihrem Leben verschwinden würde, sobald der seltsame Junge zurückkam.
    Conor hatte lange versucht, seine Verwirrung nicht in Hass umschlagen zu lassen, aber wenn er seinen Vater im Morgengrauen und nach Einbruch der Dunkelheit im Haus umhergehen hörte wie einen Gast, der niemanden mit seiner traurigen Existenz behelligen will, konnte er nichts gegen seine Gefühle tun. Er wollte die Geschenke nicht, die plötzlich in seinen Schoß fielen, und auch nicht die Berührungen, das Kopftätscheln und Knuffen und Schulterklopfen. Er wollte die Stimme nicht hören, die ihn fragte, wie er sich in der Schule mache und ob er mit zum Angeln wolle am Sonntag. Er hasste seinen Vater. Er hasste ihn, weil dieser große schwere Mann ein Feigling war, weil er sich vor dem Leben duckte wie ein Hund vor Schlägen, weil er ein Schatten war, eine Wolke aus Sägespänen, ein Nichts. Er hasste seinen Vater, und noch mehr seinen Bruder, den Krüppel, der an allem schuld war.
     
    Am frühen Morgen, als Wilbur noch geschlafen hatte, war ein kurzer Regen über das Land gegangen. Jetzt schien die Sonne, und die Erde atmete feucht und warm unter dem Gras. Sauber ausgeschnittene Wolken standen im Himmel, vergessenen Kulissen gleich. Aus den Tümpeln, die sich oft wochenlang in Senken zwischen den Hügeln hielten, stiegen Libellen auf. Weit draußen pflügte ein Trawler durch die See, ein riesiges Netz hinter sich herschleppend, das alles Lebendige ans Licht zerrte, um es zu verwerten oder an die Möwen zu verfüttern, die dem Schiff als glitzernder Körper folgten.
    Wilbur hatte gelesen, dass in den Bäuchen dieser schwimmenden Fabriken Katzenhaie ihre Jungen gebaren, bevor sie starben, und dass Arbeiter mit Messern die Arme von Kraken durchtrennten, die im Todeskampf Stahlketten und Gummistiefel umklammerten. Wilbur aß keinen Fisch mehr, seit er im Hafen einen alten Mann beobachtet hatte, der eine zappelnde Makrele am Schwanz hielt und ihr den Kopf zertrümmerte, indem er ihn ein paar Mal auf die Planken schlug. Fish and Chips waren vom Speiseplan gestrichen, und der alte O’Reilly hatte es längst aufgegeben, den Umweg zum McDermott-Haus zu machen.
    Wilbur und Conor saßen auf dem Hügel und sahen dem Fangschiff nach, bis es sich in einem Feld aus Licht, zu dem das Meer an den Rändern wurde, auflöste. Conors Haut war gebräunt, er kratzte sich am Knie und kaute auf einem Grashalm. Verglichen mit seinem Freund war Wilbur bleich, seine Beine steckten in langen Hosen. Beide trugen Sonnenbrillen, die Orla ihnen in Letterkenny gekauft hatte. Die Brillen waren zu groß, ihre Bügel griffen hinter den Ohren ins Leere, und die Gläser verdeckten das halbe Gesicht der Jungen.
    »Nicaragua«, sagte Conor.
    »Bolivien«, sagte Wilbur.
    »Guatemala.«
    »Kolumbien.«
    »Peru«, sagte Conor.
    Beide dachten an das Bild aus dem Leihbuch, das den Titel Ein Menschenopfer für den Sonnengott trug und den kolorierten Stich einer Pyramide mit flacher Spitze zeigte, auf dem ein Inkapriester einen Dolch über dem Körper einer jungen, auf einem Altar aus Fels liegenden Frauerhob. Dass die Kultstätte sie an den Steinhaufen erinnerte, den Wilburs Großvater ganz in der Nähe aufschichtete, erwähnten sie mit keinem Wort. Wilbur schämte sich für den alten Narren, und Conor wusste das.
    Eine Weile schwiegen die beiden wieder und blickten auf die leere See. Eine Hummel flog an ihnen vorbei, umkreiste sie und steuerte auf die Stechginsterbüsche zu, zwischen deren gelben Blüten es summte von Insekten. Ein paar Schwalben zeichneten sich vor dem Blau des Himmels ab. Sie suchten Futter für ihre Jungen, die in den Nestern an Colm Finnertys Stall warteten. Das Wetter würde bleiben, dachte Wilbur und rieb sich die Nase, die Orla mit

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